"Ballade von der weißen Kuh" im Kino:Gegen die Todesstrafe

Lesezeit: 3 min

Maryam Moghaddam in "Ballade von der weißen Kuh". (Foto: Amin Jafari/Weltkino)

Ein Unschuldiger wird hingerichtet, seine Witwe will Gerechtigkeit: Das iranische Filmdrama "Ballade von der weißen Kuh".

Von Annett Scheffel

Der Richter faltet die Hände über seinem grauen Aktenordner. "Es ist uns da ein Irrtum unterlaufen", sagt er in trockenem Beamtenton und mit kühler Miene zu Mina. Der Irrtum, das ist das bereits vollstreckte Todesurteil gegen Minas Ehemann. Vor einem Jahr wurde er wegen Mordes hingerichtet. Unschuldig, wie sich jetzt herausstellt. Dafür gibt es vom iranischen Staat eine Entschädigung, für einen erwachsenen Mann umgerechnet etwa 55 000 Euro. Und eine unantastbare Formel, auf die in Rechts- und Trauerfragen immer gern zurückgegriffen wird: "Uns ist klar, dass nichts Ihren Ehemann ersetzen kann, aber sicher ist, dass es Gottes Wille war." "Gottes Wille", zwei Worte, die rechtfertigen und trösten sollen, aber in der Reflexhaftigkeit, mit der sie im Film immer wieder fallen, nur zynisch wirken.

Kann man ein Menschenleben in Geld aufwiegen? Und ist ein Unrecht überhaupt je wieder gut zu machen? Von diesen Fragen erzählen die beiden iranischen Filmemacher Behtash Sanaeeha und Maryam Moghaddam in "Ballade von der weißen Kuh". Um eine persönliche Entschuldigung des Gerichts kämpft Mina vergeblich. Für die Justiz ist der Fehler mit Zahlung der Diya, des Blutgeldes, abgegolten.

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Mina aber muss weiterleben mit der Tragödie. Am Tisch des Richters ist ihr ein emotionaler Zusammenbruch gerade noch erlaubt. Es eine herzzerreißende Szene, in der sich der ganze Schmerz der jungen Witwe entlädt. In fast allen anderen Situationen ihres Lebens ist sie aber gezwungen, ihre Gefühle zu unterdrücken. Mina verschwindet auf den Straße Teherans unter dem dicken schwarzen Stoff ihres Kopftuchs. Mina verschwindet zwischen den Milchkartons in der Fabrik, in der sie jobbt, um sich und ihre gehörlose Tochter Bita über Wasser zu halten. Mina verschwindet hinter ihrer Einsilbigkeit, wenn ihr von der Familie ihres toten Ehemannes Druck gemacht wird. Mehr Spielraum hat sie nicht in einer Gesellschaft, in der sie als alleinstehende Frau schutzlos ist. Bis an ihrer Haustür Reza erscheint und als angeblicher Freund des toten Mannes seine Hilfe anbietet. Er hilft mit Geld aus, besorgt ihr eine neue Wohnung. Seine wahre Identität verschweigt der von Reue geplagte Mann aber. Reza war der zuständige Richter für das Fehlurteil. Ein Rädchen im Staatssystem. Jetzt zerbricht er an seiner Schuld.

"Manche nehmen Drogen, andere trinken, ich schaue türkische Serien."

Das Gesellschaftsdrama lief im Wettbewerb der Berlinale 2021. Es ist ein eindringliches Filmdokument über die Todesstrafe aus Iran. Das Regieduo Sanaeeha und Moghaddam - Letztere auch in der Hauptrolle - hat einen sehr politischen Film gedreht. Ihr Blick auf die iranische Gesellschaft, Justiz und Bürokratie ist ernüchternd. Das Land, das wir in "Ballade von der weißen Kuh" sehen, ist ein Ort der Enge und emotionalen Kälte. Die Filmbilder sind dichte, präzise inszenierte Tableaus, immer in strengen Rahmen und rechten Winkeln angelegt.

Lili Farhadpour und Maryam Moghaddam in "Ballade von der weißen Kuh". (Foto: Amin Jafari/Weltkino)

In den Alltagskulissen, in denen sich Mina bewegt, dominiert das trostlose Grau des Betons. Im Grunde gleichen sich hier alle Gebäude, ganz egal ob Gerichte oder Schulen, Leichenhallen oder Gefängnisse. Es sind große, monotone Klötze, die sich von Mauern und Fenstergitter abgeschirmt in die Stadt einfügen. Die ästhetische Kälte setzt sich in der gezeigten Lebenswirklichkeit fort: Mina muss in Behörden und Maklerbüros die immer gleichen mitleidlosen Gespräche führen. Vor Gericht wird sie als Frau ohne männlichen Vormund nicht angehört, als Mieterin zählt sie nicht viel mehr als ein (im Islam als unrein geltender) Hund, als alleinerziehende Mutter will ihr die Familie des toten Ehemannes sogar das Sorgerecht entziehen.

Eindrücklich schildert der Film diesen Kampf einer Frau gegen ein undurchdringliches System, in dem Fehler nicht selbstverschuldet sind, "Gottes Wille" von individueller Verantwortung befreit und Zynismus der letzte Ausweg zu sein scheint. "Manche nehmen Drogen, andere trinken, ich schaue türkische Serien", rät einmal eine Nachbarin. "Jeder muss einen Weg finden zu vergessen." Der einzige Widerstand, den der Film gegen diesen Zynismus aufzubieten hat, ist Mina selbst. Oder genauer: die aufrichtige Trauer und Wut, die sie immer wieder zeigt (wenn auch nur im Privaten). Maryam Moghaddam spielt diese einsame Figur, die vom Schicksal ihrer eigenen Mutter inspiriert ist, mit einer stillen, kämpferischen Würde. Ihre Mina ist immer beides zugleich: beherrscht und verletzlich. Und die Anstrengung, die das bedeutet, spürt man in jeder Szene.

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Dass die Filmemacher dieses Werk an den iranischen Zensoren vorbei in die Kinos gebracht haben, ist aber vor allem deshalb erstaunlich, weil neben der vordergründigen Sozialkritik auch kleine, bissige Provokationen eingebaut sind, die für westliche Sehgewohnheiten unscheinbar wirken, für das iranische Kino aber mutig sind. Minas Tochter Bita etwa ist nach einem prä-revolutionären Film benannt, aus dem man kurze Ausschnitte sieht, und in dem Frauen ohne Kopftuch gezeigt werden. Auch Mina sieht man einmal ohne Kopftuch - und zudem mit rotem Lippenstift. Es ist ein Moment der Emanzipation im Kleinen, ein winziges Stück Freiheit.

Ghasideyeh gave sefid , Iran/Frankreich 2020 - Regie und Buch: Maryam Moghaddam, Behtash Sanaeeh. Kamera: Amin Jafari. Mit: Maryam Moghaddam, Alireza Sanifar. Weltkino, 105 Minuten. Kinostart: 3. Februar 2022.

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