Autobiografie "Born to Run":Demokratie in einer Band? Für Springsteen eine tickende Zeitbombe

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Später beschreibt Springsteen das erhabene Gefühl, das sich einstellt, wenn ein Fan mit geschlossenen Augen seine Texte mitsingt: "Plötzlich ist da diese Verbindung, diese gemeinsame Liebe für die Dinge, die dir wichtig sind. Oder ... es stehen ein paar unheimlich gut aussehende Frauen im Publikum. Das hilft für gewöhnlich auch ganz gut."

Bruce Springsteen ist ein Diktator

Eines wird auf den vielen Seiten von "Born to Run" mehr als deutlich. Bruce Springsteen ist besessen. So besessen von der Musik, dass er sie, wie er schreibt, "ehrlich gesagt auch für lau gemacht" hätte. Klar, das sagt sich im Rückblick leicht, aber wer seine Biografie liest, der spürt, dass hinter dieser Aussage ein beinahe krankhafter Wille steckt. Der Frontmann und Songschreiber Bruce Springsteen ist schon in den frühen Jahren als Barband-König von Asbury Park ein echter Diktator. Demokratie in einer Band sei eine tickende Zeitbombe, sagt Springsteen. Weshalb er über die E Street Band herrscht als "Bürgermeister, Richter und Vollstrecker in Personalunion".

Was jedoch nicht bedeutet, dass Springsteen das Gespür für seine Bandkollegen verliert. Über Clarence "The Big Man" Clemons schreibt er: "Für eine ganze Weile war er der einzige Schwarze, und egal wie nah wir beide uns standen, letztlich blieb ich eben doch ein Weißer. Auch wenn ich mir kaum eine innigere Beziehung vorstellen kann als unsere, lebten wir trotzdem in der realen Welt - und auch wir mussten die bittere Erfahrung machen, dass nichts, nicht mal alle Liebe dieser Welt 'Rassenunterschiede' überwinden konnte."

Bruce Springsteens Diktatur wird unterfüttert und gesichert von einem persönlichen Kontrollzwang (Keine Drogen! Keine Ablenkung!) und einer Portion Größenwahn. Er sieht sich selbst als den "besten unentdeckten Musiker" der Ostküste. Im ausufernden Perfektionismus der Aufnahme-Sessions zu seinen größten Alben in den späten Siebzigern zeigt sich, dass Springsteens großes Mantra ein ebenso großer Fluch ist: "Born to Run" bedeutet nicht nur Freiheit und Eskapismus, sondern auch die Flucht vor dem echten Leben. Nur im Studio und auf der Bühne fühlt sich Springsteen sicher. Deshalb schreibt er Hunderte Songs, die er nicht veröffentlichen wird. Deshalb spielt er regelmäßig Shows, die an der Vier-Stunden-Marke kratzen. Die Straße ist Springsteens Schutzschild.

Bruce Springsteen ist ein Illusionist

In den schönsten Stellen seiner Memoiren offenbart sich Springsteen als Lügner, als Illusionskünstler. Das Vorwort von "Born to Run" beginnt mit den Worten: "Ich komme aus einem Küstenstädtchen, in dem fast alles einen leichten Anstrich von Lug und Trug hat. Genau wie ich." Er war der König der Säufer, Zuhälter und verlorenen Seelen der Strandpromenade. Alkohol selbst hat Springsteen aber bis zu seinem 22. Lebensjahr nicht angerührt. Und Autofahren konnte er lange Zeit auch nicht. Springsteen, der Poet der Highways, der Widergänger Jack Kerouacs, der Mann, in dessen Songs Chevys, Cadillacs und Pickup-Trucks durch die Straßen rasen, fuhr meist per Anhalter. Seine Bandkollegen bezeichneten seine Fahrkünste als lebensgefährlich.

Darin liegt die Größe von Bruce Springsteens Autobiografie: Die Legende hat ihre Legende aufgeschrieben. Aber sie hat sie auch ein kleines bisschen entzaubert.

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