"Archiv der Flucht":Jesus lebt auch in Uganda

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Lucía Muriel kam 1970 aus Ecuador nach Deutschland und hat in der DDR Rassismus erfahren. Ihr Bericht ist einer von 41 im "Archiv der Flucht". (Foto: Heidi Specogna / HKW)

Das Haus der Kulturen der Welt in Berlin versammelt Stimmen Geflüchteter: 41 Menschen aus 27 Ländern erzählen ihre Geschichten.

Von Sonja Zekri

Als die Mauer fiel, wurde Lucía Muriel kurz hintereinander von zwei sehr starken, sehr gegensätzlichen Gefühlen überwältigt. Das erste: große Freude. Ein Freund rief sie an und berichtete, dass er durch das Brandenburger Tor hin und her laufe, alles offen, alles möglich, und Lucía Muriel dachte: "Wie toll ist das denn?" Und dann, einen Tag später, als die Ostberliner in Westberlin ankamen, wo Lucía Muriel nach einer Kindheit und Jugend in Leipzig nun lebte, sah sie sie, auf dem Ku'damm, vor den Sparkassen und Banken, wie sie das Begrüßungsgeld abholten. Und es traf sie wie ein Schock: Der Rassismus, den sie in der DDR erlebt hatte, würde sie einholen, da war sie sicher: "Die Leute kommen nicht nur mit Trabbis", dachte sie. Die "Deutsch-Deutschen" lagen sich jauchzend in den Armen, aber sie, die 1970 aus Ecuador nach Deutschland gekommen war und das Land diesseits und jenseits der Mauer so gut kannte wie wenige andere, bekam einen Weinkrampf.

Einen Tag nach der großen Befreiungssause am Brandenburger Tor sah Muriel, wie türkische und arabische Reinigungskräfte den Dreck auf der Straße des 17. Juni wegräumten. Ein besseres Bild für die Rollenverteilung in diesem historischen Moment hätte sich kein Regisseur der Welt ausdenken können.

Für Menschen mit nicht-weißer Haut stellte die Wiedervereinigung ein echtes Risiko dar

Man könnte einwenden, dass Muriels Aussagen selbst ausgrenzend und abwertend sind, schließlich sind nicht alle Ostdeutschen Rassisten. Man kann aber auch noch mal an Hoyerswerda erinnern, an Rostock-Lichtenhagen, an Mölln und Solingen. Und dann muss man zu dem Schluss kommen, zu dem damals auch nationalismus-sensible Deutsch-Deutsche kamen, dass nämlich die Wiedervereinigung für Menschen ohne weiße Haut ein echtes Risiko darstellte, dass das schöne Ereignis erst mal das Schlimmste zum Vorschein brachte, was beide Deutschlands zu bieten hatten.

Für einen Moment läuft es einem also kalt den Rücken herunter, während man Lucía Muriel zuhört im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Dabei sind die Sessel bequem, der Kopfhörer drückt nicht. Und obwohl das große Leinwand-Rondell, auf dem Lucía Muriel und die anderen Sprecher erscheinen, mitten im Foyer zu schweben scheint, entsteht der Eindruck großer Nähe, ja, von Intimität.

"Menschen haben angefangen zu erzählen, weil jemand gefragt hat", so hat die iranisch-deutsche Schriftstellerin Asal Dardan die Bedingungen des Projektes " Archiv der Flucht" formuliert. 41 Mal hat jemand gefragt, 41 Geschichten enthält die Oral-History-Sammlung. Die Autorin und Publizistin (und SZ-Kolumnistin) Carolin Emcke und die Migrationsforscherin Manuela Bojadžijev haben sie kuratiert und Anfang Oktober - flankiert von prominent besetzten Thementagen - vorgestellt.

Digitaler Gedächtnisraum: Das "Archiv der Flucht" im Haus der Kulturen der Welt will zeigen, dass Flucht keine Ausnahme ist, keine "Anomalie". (Foto: Sebastian Bolesch / HKW)

Die Interviewten - 18 Frauen, 23 Männer, darunter vier LGBTQIA - stammen aus 27 Ländern. Die Zeitspanne ihrer Berichte reicht von der Flucht aus Schlesien 1945 bis zum syrischen Bürgerkrieg. Alter, Bildung, soziale Zugehörigkeit, alles ist völlig unterschiedlich, so wie auch die Interviewer in ganz unterschiedlichen Disziplinen arbeiten, weiß sind oder auch nicht, Migrationserfahrung haben oder auch nicht, Juden oder Christen oder Muslime oder etwas ganz anderes sind. Emcke und Bojadžijev bemühen sich um maximale Vielfalt, um maximale Inklusion. Das klingt nach angestrengtem Proporz, macht die Sache aber eigentlich nur abwechslungsreich.

Flucht ist keine historische Ausnahme, so wollen die Kuratorinnen mit diesem räumlich und zeitlich weit gespannten Ansatz zeigen, sie ist keine "Anomalie" (Bojadžijev). Vielmehr war sie immer schon Teil der deutschen Geschichte, weil sie Teil der Menschheitsgeschichte ist. Viele Religionen kreisen um prominente Geschichten des Auszuges und der Rettung. "Die erste Geschichte ist die Geschichte der Flucht", diesen Satz wiederholt der Schriftsteller Senthuran Varatharajah bei der Eröffnung wie einen Refrain.

Deutschland ist kein Sonderfall, Deutschland sei "ein Land mit Migrationshintergrund", hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 3. Oktober gesagt, was einerseits eine Aussage von bestürzender Evidenz war. Andererseits: Klang das nicht doch zu selbstverständlich, zu stabil, zu abgeschlossen? Ist das Wesen eines Einwanderungslandes nicht gerade das ständige Werden, wie Asal Dardan bemerkte, ein unentwegtes Aushandeln von Zugängen und Teilhabe?

Wenn man sich ein paar Stunden in das "Archiv der Flucht" versenkt, wenn man sich mitnehmen lässt von den furchtbaren Geschichten über Kriege oder Verstümmelungen oder Sklaverei, von Todesgefahr und Verlust, und wenn die Berichte dann irgendwann von der Ankunft in Deutschland erzählen, stellt sich sehr stark der Eindruck ein, dass längst nicht alle Deutschen auf dem Stand des Bundespräsidenten sind. Und ob sie es je sein wollen, ist noch sehr die Frage.

Die Interviewer sind von der Wucht des Erlebten teils ergriffener als die Interviewten

Bino Byansi Byakuleka, schwul, Christ und Gründer der Kampagne "We are born free!" für die Integration von Flüchtlingen, kann es jedenfalls nicht mehr hören, wenn die Menschen in Uganda ihm von einem Deutschland vorschwärmen, das er ganz anders erlebt. Als er abgeschoben werden sollte und sich an einen Pfarrer um Hilfe wandte, teilte dieser ihm mit, ja, schade, aber da sei wohl nichts zu machen. Außerdem: Jesus lebe ja auch in Uganda. Die Syrerin Mouna Aleek trägt Kopftuch und kennt schiefe Blicke, sie versteht die Gesten, auch wenn ihr Deutsch noch nicht besonders gut ist. Aber zurück nach Syrien will sie auf keinen Fall, es sei doch ein schönes Leben hier.

Bei so viel Mut, so viel Resilienz, so viel Optimismus bleibt nur die Frage, warum das "Archiv der Flucht" keine größere Erschütterung auslöst, keine blitzartige Erkenntnis, kein tiefes Angefasstsein? Vielleicht liegt es daran, dass die Interviewer von der Wucht des Erlebten zuweilen ergriffener wirken als die Interviewten. Die Erzähler berichten oft erstaunlich nüchtern, pragmatisch und manchmal geradezu aufgeräumt. Man begreift: Sie werden die Flucht nie vergessen, aber sie hatten ein Leben davor und sie tun alles, um eines danach zu haben.

Das "Archiv der Flucht" ist ein aufwendiges, respektables, engagiertes Projekt. Was es nicht ist: überraschend. Die vergangenen Jahre haben eine Fülle an bewegenden Geschichten geglückter oder katastrophaler Neuanfänge in den Medien, in Literatur und Film gebracht. Auch einige Protagonisten aus dem "Archiv der Flucht" wurden in Reportagen und Fernsehbeiträgen porträtiert, oder sie haben ihre Geschichte selbst aufgeschrieben wie die Schriftstellerin Sasha Marianna Salzmann.

Insofern mangelt es nicht unbedingt an Geschichten, sondern eher an Zuhörern. Wenn die Taliban Kabul einnehmen, ist ein Teil der deutschen Öffentlichkeit aufgewühlt, weil jene bedroht sind, die Frauenrechte, Meinungsfreiheit, westliche Werte vertraten, die an den Westen glaubten. Aber ein anderer Teil und ganz vorne natürlich Innenminister Horst Seehofer sieht nichts als eine drohende neue "Flüchtlingskrise". Und die Erzählung, die diesen Graben schließt, ist noch nicht geschrieben.

"Archiv der Flucht". Haus der Kulturen der Welt, Berlin. Bis 3. Januar.

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