Architekturausstellung in München:Das Wohnzimmer für alle

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Lina Bo Bardi auf der Treppe ihres Hauses: ein Scherenschnitt der Schönheit und Eleganz. (Foto: Francisco Albuquerque / Arquivo ILBPMB)

Architektur ist eine Männer-Domäne. Aber die brasilianische Baumeisterin Lina Bo Bardi hat es mit den Berühmtheiten der Moderne aufgenommen. Eine Münchner Schau zeigt, warum sie heute wieder die Frau der Stunde ist.

Von Laura Weißmüller

Es gibt eine Fotografie von ihr. Lina Bo Bardi steht dort auf der Außentreppe ihrer Casa de Vidro. Erhaben blickt sie in die Ferne, über allem schwebend, losgelöst von sämtlicher Erdschwere, die das Bauen eigentlich so mit sich bringt. Klassische Heldenpose könnte man dazu sagen, oder auch: Typ architektonischer Großbaumeister der Moderne.

Doch die italienisch-brasilianische Architektin, die am 5. Dezember 100 Jahre alt werden würde, verkörpert genau die Gegenposition zu all den - männlichen - Baumeistern des 20. Jahrhunderts, die wir bis heute verehren. Die Heldenpose eines Le Corbusier oder auch eines Oscar Niemeyer passt nicht zu der energischen Frau, die ihre Gebäude am liebsten zusammen mit den Handwerkern und den späteren Benutzern auf der Baustelle entwickelte. Die auf ein Büro verzichtete, gerade weil das gottgleiche Planen am Reißbrett ihrer männlichen Kollegen nicht ihrer Art entsprach, Gebäude zu entwerfen. Und die genau aus diesem Grund für die junge Architektengeneration heute so wichtig geworden ist. Einen Le Corbusier mag man bewundern, einer Lina Bo Bardi sollte man nacheifern. Jetzt und zwar weltweit.

Die Distanz zwischen den Kontinenten schrumpft

Warum genau, das zeigt nun eine phänomenale Ausstellung im Münchner Architekturmuseum. Es ist die erste große Schau zum Werk von Lina Bo Bardi, die zwar in Italien aufwuchs, aber nur in Brasilien gebaut hat. Doch dank der Kuratorin Vera Simone Bader und der brasilianischen Architektin Marina Correia, die die Ausstellungsgestaltung entworfen hat, schrumpft die Distanz zwischen den Kontinenten sofort zusammen.

Selten hat man Leben und Werk eines Architekten so klar, aber auch so sensibel kennenlernen können wie hier. Weder haben die Ausstellungsmacher Bo Bardis Strategien platt imitiert - ihre Lieblingsfarbe Rot sucht man in dieser überwiegend weißen Schau vergeblich -, noch haben sie die Bodenperspektive, die sie bei jedem ihrer Entwürfe einnahm, und ihr Interesse an der Handwerkskunst ihrer Wahlheimat allzu nüchtern musealisiert. Ein Balanceakt, der Architekturschauen nur selten gelingt.

Die Casa de Vidro ist ihr erstes Gebäude. Der von drei Seiten verglaste Kubus, den elf dünne Stahlstützen tragen, wurde 1951 im selben Jahr fertiggestellt, in dem Lina Bo Bardi die brasilianische Staatsbürgerschaft annahm. Aus Rom, wo sie studiert hatte, war sie 1940 geflüchtet. Weg von der dort alles bestimmenden Antike und Renaissance, weg auch von den Faschisten, die zwanghaft die Antike wiederbeleben wollten, hin zum einzigen Ort Italiens, der für sie nicht "Stillstand" bedeutete: Mailand.

Brücken verbinden beide Bürotürme der SESC Pompeia (1977-1986) in Sao Paulo. Die umgebaute Fabrik darunter funktioniert bis heute als eine Art Wohnzimmer für alle: mit Bibliothek, Theater und Ausstellungsräumen. (Foto: Markus Lanz)

Prall gefüllte Kleiderschränke

Dort arbeitete sie bei dem Architekten Gio Ponti, weniger praktisch denn architekturtheoretisch. Der Krieg ließ keine Neubauten zu. Deswegen veröffentlichte Bo Bardi Texte und Illustrationen. Ihre Zeichnungen aus dieser Zeit zeigen Wohnzimmer, Häuser, aber auch Menschen vor prall gefüllten Kleiderschränken. Bo Bardis Strich ist leicht, fast tänzelnd; die Farben sind fröhlich bunt. Ein wenig erinnert das an Andy Warhols frühe Werbeillustrationen, aber auch an Kinderbücher. Beides dürfte in ihrem Sinn gewesen sein.

Diesen Zeichenstil nahm sie 1947 mit nach Brasilien. Ihr Mann, der einflussreiche Kunstsammler, -händler und- kritiker Pietro Maria Bardi, hatte das Angebot bekommen, im rasant wachsenden São Paulo Direktor eines neuen Museums für moderne Kunst zu werden. Mit der Casa de Vidro schuf die Architektin für sie beide, die schnell in den wichtigsten gesellschaftlichen und politischen Kreisen verkehrten, ein neues Zuhause.

Lageskizze für das SESC - Fabrica da Pompeia, São Paulo, Zeichnung von Lina Bo Bardi, 1977. (Foto: Arquivo ILBPMB)

Wie klar ihr gewesen sein muss, dass sie nicht mehr nach Italien zurückkehren wird, zeigt ihre Federzeichnung von 1951. Bo Bardi sitzt dort mit Mann und Hund auf einem Sofa in ihrem neuen Zuhause. Der Glaskubus ist noch fast leer, umso voller wuchert es hinter der Fassade, die Pflanzen scheinen gleich das Wohnzimmer zu entern. Ein halbes Jahrhundert später tun sie das tatsächlich. Wer heute das Haus, in dem die Gestalterin mit ihrem Mann bis zu ihrem Lebensende wohnte, sieht, wird es auf den ersten Blick kaum erkennen, so sehr grünt es ringsum. Es wirkt wie ein Baumhaus im Urwald, tatsächlich steht das mitten in São Paulo.

Die winzige Zeichnung war typisch für Lina Bo Bardis Art, ihre Häuser zu skizzieren. Technische Zeichnungen sucht man bei ihr vergeblich. Egal ob sie Privathäuser wie die Casa Cirell, wo sie das erste Mal einen vertikalen Garten anlegte, oder ihre großen öffentlichen Bauten aufs Papier brachte, etwa das Museu de Arte de São Paulo (MASP). Die Architektin zeichnete sichtbar nicht für Ingenieure oder sonst irgendwelche Fachleute, sie zeichnete für die Menschen, die ihre Gebäude benutzen würden; für die Handwerker, die ihr die Holztreppen zimmerten; für die Bauarbeiter, die ihr das Zementfundament gossen.

Architekturvermittlung sollte in ihren Augen so funktionieren, dass alle sie verstehen konnten - genauso wie ja alle auch in den gebauten Strukturen leben mussten. Eine Einstellung, die sie grundlegend von Baumeistern der Moderne wie Le Corbusier unterschied. Wer einmal seine Planstadt Chandigarh besucht hat, weiß, wie weit hier Wunsch und indische Chaos-Wirklichkeit auseinanderklaffen.

Die Casa de Vidro ist mehrfach fotografiert worden. Aber stets nur von ihrer offenen, modernen Seite, so als müsste verborgen bleiben, dass sich ein eher geschlossener traditioneller Gebäudetrakt an die Glasfassade anschließt. Tatsächlich macht der aber weniger Verzagtheit sichtbar, sondern vielmehr die Fähigkeit der Architektin, Konträres zu verbinden.

Bekenntnis zur Moderne

Casa de Vidro, São Paulo, 1949-1951, Außenansicht kurz nach Fertigstellung. (Foto: Arquivo ILBPMB)

Ihr Bekenntnis zur Moderne ist eindeutig. Die knallroten Spannbetonträger, mit denen sie den Ausstellungskubus ihres Museums in São Paulo acht Meter in die Höhe hievte, erinnern an Richard Neutras "Spider legs". Der raue Sichtbeton, den sie mit einem Mut zur Hässlichkeit großflächig einsetzte, lässt jedes brutalistische Herz höher schlagen. Aber Lina Bo Bardi war nie radikal, zumindest nicht in dem Sinne, dass sie ein festes Programm durchboxen musste. Sie hatte kein fixes Formenrepertoire. Immer wiederkehrende Details - in der Moderne sind das meist Box und Rampe - gibt es bei ihr nicht. Sie ist eben keine Architektin für die Stil-Schublade, sondern eine fürs Leben.

Wie sehr diese Haltung ihre Gebäude bis heute, Dekaden nach ihrer Eröffnung, in der Gegenwart verortet, sieht man besonders gut an ihren öffentlichen Bauten. Etwa beim MASP, wo sie die Ausstellungsfläche sprichwörtlich auf öffentlichen Raum sockelte. Zwischen dem Kubus für moderne Kunst und dem Untergeschoss mit Werkstätten, Auditorium, Bibliothek, Restaurant und Theater ist ein öffentlicher Platz. Mal finden hier Flohmärkte statt, mal Rockkonzerte. Das Museum wird quasi von öffentlichem Leben durchpulst, etwas, was sich viele Ausstellungshäuser hierzulande nur wünschen können. Und das, obwohl das MASP durch nachträgliche Umbauten und Ignoranz der Direktoren zur Zeit in schändlich schlechtem Zustand ist. Auch in Brasilien muss das Werk der streitbaren Architektin erst noch die angemessene Anerkennung finden.

Ihr Bau für das politische Teatro Oficina in São Paulo macht dagegen jeden Quadratzentimeter zur Bühne. Hier ist nichts versteckt. Die Stücke werden entlang einer Theaterstraße aufgeführt, die Besucher sitzen auf simplen Gerüsten und sehen alles: die Schauspieler beim Schminken, die Lichttechniker beim Justieren, die Musiker beim Spielen. Die Hierarchie ist aufgehoben, das Leben an sich zum Schauspiel erkoren. "Theater ist mein Weg der politischen Partizipation", hat Lina Bo Bardi, die mit dem brasilianischen Militärregime auf Konfrontationskurs ging, gesagt. Ihr Teatro Oficina zeigt, was sie damit meinte - und es bringt einem das Kulturverständnis dieses Landes näher. Im Katalog, der das Zeug zum Standardwerk hat, schreibt Guilherme Wisnik: "Lina Bo Bardis Werk ist das verlorene Bindeglied, das die brasilianische Architektin seit den 60er-Jahren mit den kritischen und experimentellen Reflexionen und Arbeiten der anderen Künste im Land, wie Kino, Theater, Popmusik und bildende Künste verbindet."

Die Fabrik als Manifest und Wohnzimmer

Eine Ausstellung über Lina Bo Bardi wäre nicht vollständig ohne SESC Pompeia, ihr Hauptwerk, oder, wie ihr ehemaliger Assistent, der Architekt Marcelo Carvalho Ferraz, sagt: ihren "Wunsch, ein neues Brasilien" zu zeigen. Für die Sozialorganisation für Handel (SESC) baute sie von 1977 an in São Paulo eine alte Fabrik in ein öffentliches Sport- und Kulturzentrum um. Zehn Jahre arbeitete sie an diesem Auftrag und verwandelte die Fabrik - wie bei all ihren Sanierungen nur mit minimalen Mitteln - in ein kulturell genutztes öffentliches Wohnzimmer. Wie bei jedem Bau entwarf sie alle Möbel und sämtliche Details - bis hin zum geringelten Fußballtrikot. In zwei Betontürme stapelte sie so geschickt Sporthallen und Umkleiden, dass die Verbindungsbrücken zum belebten Begegnungsort werden. "An diesem Ort respektieren sich die Menschen gegenseitig, weil der Raum sie respektiert", sagt Ferraz. Was so simpel klingt, ist das Geheimnis von Lina Bo Bardis Wirkungskraft - und der Grund, warum ihr auch in Zukunft die Rolle eines großen Baumeisters gebührt.

Lina Bo Bardi 100 . Brasiliens alternativer Weg in die Moderne. Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne. Bis 22. Februar 2015. Info: www.architekturmuseum.de. Umfangreicher Katalog (Hatje Cantz Verlag): 49,80 Euro.

© SZ vom 14.11.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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