Antisemitismus in Deutschland:Das Erb-Übel

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Tür der Synagoge in Halle, an der der Terrorist scheiterte. (Foto: Regina Schmeken)

Der Antisemitismus floriert: In Schlussstrich-Denken, getarnt als "Israel-Kritik" oder in der Popkultur - untereinander stets koalitionsfähig. Die Antwort darauf kann nur eine starke Zivilgesellschaft geben.

Kommentar von Gustav Seibt

Das knapp vermiedene Massaker bei der Synagoge in Halle führt nun zu den erwartbaren Bekenntnissen gegen den Antisemitismus. Doch diese Bekenntnisse fielen schon am ersten Tag nach dem Schrecken erstaunlich widersprüchlich und vielstimmig aus. Die vergiftete Atmosphäre in Deutschland zeigt sich auch im Deuten auf den Antisemitismus der jeweils anderen Seite: Die einen verweisen auf den ansteigenden gewalttätigen Rechtsradikalismus im Windschatten der AfD, andere können es nicht lassen, auch nach dem Attentatsversuch eines Deutschen auf die verbreitete migrantische Juden- und Israelfeindschaft hinzuweisen. Dass sie sich damit ein ausdrückliches Motiv des Attentäters, das sich gegen Migration richtete, zu eigen machen, fällt ihnen offenbar nicht auf.

Nun hat es den einen Antisemitismus noch nie gegeben. Der Hass gegen die Juden hat über die Jahrhunderte so zäh überlebt, weil er die unterschiedlichsten Gestalten annehmen und immer neue Bündnisse eingehen konnte. Ablehnung der Juden gehört zum Kern der christlichen Heilsgeschichte, was die heute beliebte Formel von den "jüdisch-christlichen Grundlagen" unserer Kultur entweder beschönigt oder unfreiwillig offenbart. Judenfeindschaft kannte sogar die Aufklärung, weil sie dem Volk Gottes Unduldsamkeit und Beharren auf überholten Religionsgebräuchen vorhielt. Judenhass verband sich seither mit Nationalismus, Antikapitalismus, Rassismus.

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Der Todesschütze von Halle hat die Tat gestanden und auch ein rechtsextremistisches, antisemitisches Motiv bestätigt. Nun sucht das Bundeskriminalamt nach eventuellen Hintermännern.

Längst ist der europäische Antisemitismus in alle Welt exportiert worden; als verschwörungstheoretisches Denken erlebt er vor allem in der islamischen Welt eine neue Blüte. Und keine seiner älteren Gestalten ist vollständig verschwunden; sie alle leben im Untergrund der Überlieferungen weiter, wo sie mit neuen Affekten verbunden und zu neuem Leben erweckt werden können.

Heute in Deutschland lebende Jüdinnen und Juden sehen sich vor allem mit dreien solcher Varianten des Antisemitismus konfrontiert. Erstens floriert weiter der deutsche Nach-Holocaust-Antisemitismus, der auch dann, wenn er die Judenvernichtung nicht direkt leugnet, mit "Schuldkult" und Erinnerungskultur Schluss machen und die deutsche Geschichte wieder in ihre alte Glorie einsetzen möchte. Das ist der Antisemitismus aus nationaler Kränkung, den derzeit der "Flügel" der AfD am ungeniertesten vertritt. Sein Fußvolk sind Hooligans und Neonazis, die Gräber beschmieren oder jüdische Lokale überfallen.

Die "Israel-Kritik" reicht vom islamischen Fundamentalismus bis zu Teilen der europäischen Linken

Zweitens zeigt sich eine "Israel-Kritik", die alle Juden dieser Welt für die Politik des Staates Israel in Mithaftung nehmen will und dabei ganz ungeniert ältere Motive einer jüdischen Weltverschwörung aufgreift, in der Kritik an "jüdischen Lobbys" und einer angeblich jüdisch dominierten öffentlichen Meinung. Diese "Israel-Kritik" reicht vom islamischen Fundamentalismus bis zu Teilen der europäischen Linken. In Deutschland äußert sie sich zurückhaltender als in anderen Ländern, aber auch hier hat man schon israelfeindliche Demonstrationen mit inakzeptablen Parolen erlebt.

Drittens zeigt sich, besonders verstörend, seit mehr als einem Jahrzehnt ein popkultureller Antisemitismus, vor allem in der Rapperszene, der Motive aus allen Phasen der Geschichte des Antisemitismus aufgreift und mit erstaunlicher Ungeniertheit rekombiniert. Das aufwendige Video "Apokalypse" des Rappers Kollegah von 2016 findet sich im Netz nicht zufällig auf Seiten, auf denen auch das "Horst-Wessel-Lied" oder Tonspuren von Hitlers Stimme angeboten werden. Hier werden uralte Klischees von einer jüdischen Weltverschwörung in einer reißerischen, gruftigen Ästhetik dargeboten, die an die ominösen "Protokolle der Weisen von Zion" erinnert, ein antisemitisches Machwerk, das aus der Welt des Schauerromans im späten 19. Jahrhundert stammt.

Solche Fantasiewelten sind deshalb so beunruhigend, weil sie stimulierend wirken für alle möglichen Formen des gewalttätigen Judenhasses im Alltag, die vom Mobbing auf dem Schulhof - der Jude als "Opfer" - bis zum Verprügeln von Kippa-Trägern auf der Straße reichen. Die Popkultur ist zudem offen für Querfronten zwischen Migranten und deutschen Neonazis. Der popkulturell unterfütterte machistische Straßen-Antisemitismus findet seine Fortsetzung im Netz, wo er frustrierten jungen Männern hilft, zugleich Frauenhass, Schwulenhass und Antisemitismus auszuleben.

Das jüngste antisemitische Ideengebräu verbindet Antifeminismus und Genderhass mit der Verschwörungstheorie vom "großen Austausch"

Dieser neue Netz-Antisemitismus weist über Deutschland hinaus. Der Versuch des Täters von Halle knüpft an Vorbilder an, die Namen wie Pittsburgh und Christchurch tragen. Das Massaker als Großtat eines Ego-Shooters, live im Netz übertragen, mit einem vorangehenden "Manifest" gerechtfertigt, dem so maximale Aufmerksamkeit verschafft werden soll, das ist die neueste Variante der langen antisemitischen Gewaltgeschichte. Dass diese Form der Gewalt sich auch gegen andere Ziele wie islamische Gemeinden oder schwul-lesbische Lokale richten kann, zeigt ein weiteres Mal die Anschlussfähigkeit des Antisemitismus.

Das jüngste antisemitische Ideengebräu verbindet Antifeminismus und Genderhass mit der Verschwörungstheorie vom "großen Austausch" der angestammten Bevölkerungen durch Masseneinwanderung: Diesem solle durch eine Absenkung der Geburtenraten Vorschub geleistet werden. In diesem Gebräu sind Judenhass, Islamhass, Frauen- und Schwulenhass im Zeichen einer kruden Globalisierungsangst verschmolzen. Der Hintergrund ist geradezu klassisch faschistisch, weil er ethnische Kollektive gegen die Möglichkeiten des Individuums ausspielt.

Die Szenerie ist erschreckend. Sie zeigt, dass es den Antisemitismus der jeweils anderen Seite nicht gibt. Alle seine Formen bleiben untereinander koalitionsfähig. Die Antwort auf den Wahn kann nicht nur polizeilich sein, sie muss alltäglich-zivilgesellschaftlich werden: endlich.

© SZ vom 12.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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