Der Politologe und Volkswirt Asiem El Difraoui beschäftigt sich seit Jahren mit der arabischen Welt, er selbst hat ägyptische Wurzeln. Seine Dissertation schrieb er über den "Dschihad der Bilder". Seine Dokumentationen und Reportagen zum Thema sind preisgekrönt.
SZ.de: Herr El Difraoui, Sie plädieren dafür, den Islamischen Staat nur noch als "Daesch" zu bezeichnen: Die Abkürzung erinnert etwa an das arabische Wort für "zertreten". Das mag passend sein - aber sind Begrifflichkeiten in diesen Tagen nicht vollkommen egal?
Asiem El Difraoui: Im Gegenteil. Wir müssen im Kampf gegen den IS die Deutungshoheit zurückgewinnen - gerade über Begrifflichkeiten. Das mag oberflächlich wirken, aber der Daesch wirkt auch deshalb so anziehend auf bestimmte junge Menschen, weil er ihnen eine pervertierte Gegenkultur bietet, die sich paradoxerweise an der Popkultur bedient. Nehmen Sie den erhobenen Zeigefinger, mit dem junge Dschihadisten posieren: Sie behaupten, das sei das Zeichen für die Einheit Gottes, für die muslimische Glaubensgemeinschaft. Im Grunde ist es eher ein Gang-Symbol, ein Zeichen, das bei Facebook verwendet wird. Auch das Daesch-Logo, das ganze Merchandising - da ist kaum noch ein religiöser Deckmantel zu erkennen.
Das war früher anders?
Es gibt mittlerweile drei oder vier Generationen von Dschihadisten: Bin Laden und die Afghanistan-Kämpfer, die Attentäter von 9/11 und jetzt die Angreifer von Paris und Brüssel. Die Männer, die 2001 die Flugzeuge ins World Trade Center steuerten, waren wesentlich höher gebildet, das waren fast alles Akademiker. Jungs aus der oberen Mittelschicht der arabischen Welt wie Mohammed Atta. Der studierte in Hamburg und war - bei allem, was man weiß - auf seinem Gebiet ziemlich brillant. Was aber entscheidender ist: Diese Männern waren tatsächlich noch auf einer religiösen Sinnsuche.
Inwiefern?
Die haben ihren Glauben reflektiert, Texte gelesen, und ließen sich irgendwann irreleiten von der schlimmen Heilslehre, die al-Qaida propagierte: "Kommt zu uns und ihr seid die einzig wahren Gläubigen. Eure Sünden werden euch vergeben. Und wenn ihr euch noch dazu umbringt, kommt ihr als Allererste ins Paradies - vor allen anderen Muslimen." Das wurde als eine Art religiöse Revolution verkauft, der sich ja auch Deutsche anschlossen. Die, die hierzulande vor etwa zehn Jahren abdrifteten, konvertierten erst, dann wandten sie sich dem Salafismus zu. Die heutigen europäischen Dschihadisten, die Terroristen von Brüssel, haben keine Ahnung mehr vom Islam.
Selbst ernannte religiöse Krieger ohne Religion?
Diese jungen Männer wissen nicht mal, was Dschihad heißt! Sie haben keine Ahnung, was dieses Märtyrertum bedeutet, sie kennen die entsprechenden Texte nicht in ihrer Ganzheit. Die bekommen von ihren Anführern wie bei einem Lego-Spiel nur ganz bestimmte Bausteine des Islams vorgesetzt: die schlimmsten, hasserfülltesten Suren, die auch noch verkürzt werden. Die Heilslehre wird zum reinen Instrument. Diese jungen Männer denken nicht darüber nach, wie vielschichtig eine Religion ist, und kommen dann zu einem Trugschluss.
Gilt das nur für die europäischen Dschihadisten oder auch für die IS-Kämpfer beispielsweise in Syrien?
Das kann man schwer sagen. Aber die syrischen Dschihadisten haben häufig ein größeres Grundwissen, weil sie in diesen Gesellschaften groß geworden sind.
Warum haben die Attentäter von Brüssel offenbar so großen Rückhalt in Molenbeek erfahren? Warum hat niemand Salah Abdeslam verpfiffen?
In Molenbeek erleben wir die totale Vermischung: von Bruderschaft und Familiennetzwerken. Von Nachbarschaftsnetzwerken, die größtenteils in die Kriminalität abgerutscht sind - also Bandensolidarität. Und obendrauf, als Pfropfen, wirkt dieser ganze Dschihadismus-Verschnitt.
Das klingt nach Mafia, nach Gesetz des Schweigens.
Ja, durchaus. Die Attentäter konnten mit verschiedenen Solidaritäten spielen, ich glaube, die islamische spielt da keine Rolle. Eher schon Familien- und Gang-Solidarität. Die Brüder Abdeslam haben vor Paris eine Hasch-Bar betrieben. Die belgische Generation - das sind alles Klein- bis Schwerstkriminelle. Die haben zwischendurch einen Joint geraucht und sich mit Mädchen getroffen.
Das lässt sich selbst für einen Laien nur schwer mit einer strengen Auslegung des Islam vereinbaren.
Es gibt im Islam ein Konzept namens "taqiyya": Es besagt, dass ein Muslim seinen Glauben leugnen darf, wenn er bedroht ist. Das spielte beispielsweise zur Zeit der Kreuzzüge und während der Spanischen Inquisition eine Rolle. Die Dschihadisten sagen nun: Du darfst im Dschihad, weil das die sechste Säule des Islam ist, lügen, betrügen, saufen und huren. Das kommt jungen Männer mit einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur natürlich zupass. Jungen Männern, die ein unheimliches Frustrations- und Gewaltpotenzial haben. Der ganze Mist, den sie bauen, steht plötzlich unter der riesigen Lüge des Dschihadismus. Das gilt im Übrigen auch für die Terroristen in Syrien, die ihren Opfern den Kopf abschlagen.
Wäre es dann nicht ein Leichtes für die muslimischen Geistlichen vor Ort, die vermeintlichen Dschihadisten als Betrüger zu entlarven?
Nein, die erreichen die jungen Leute ja gar nicht. Die Imame sind zu schwach und zu altmodisch, sie werden im besten Fall als langweilig betrachtet, im schlechtesten als korrupt. Gerade in Frankreich sind das häufig lokale Interessenvertreter, die zum Beispiel vom marokkanischen Könighaus bezahlt werden und nicht mal richtig Französisch sprechen. Das ist auch für Konvertiten hierzulande ein Problem: Weil viele Verbände türkisch sind oder arabisch, bekommen sie dort keinen Zugang, weil sie die Sprache erst gar nicht verstehen. Da wirkt es natürlich verführerisch, wenn jemand kommt, der den eigenen Slang spricht und dazu noch eine einfache Interpretation des Islam anbietet.
Wie kann man da überhaupt dagegen halten?
Das geht nur langfristig. Wir müssen mehr europäische, junge, muslimische Rechtsgelehrte ausbilden, die diese Generation erreichen. Oft steht die Entwicklung auf Messers Schneide. Ich schreibe gerade über einen französischen Dschihadisten: Der radikalisierte 2005 ein ganzes Netzwerk, schickte junge Männer in den Irak, um dort gegen die Amerikaner zu kämpfen. Auch spätere Charlie-Hebdo-Attentäter gehörten zu seinen Anhängern. Im Knast ließ sich dieser Dschihadist zum Krankenpfleger ausbilden, sagt heute, dass er diese Form der Gewalt ablehnt - und trägt einen Anstecker mit "Je suis Charlie".
Das Buch " Wie der Dschihadismus über uns kam. Ein Augenzeugenbericht" von Asiem El Difraoui erscheint im Oktober 2016 bei Suhrkamp.