Rücktritt der Bundeskanzlerin:Merkels Macht auf Zeit

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Wer jetzt in der CDU zum Vorsitzenden gewählt wird, hat gute Chancen, Merkel im Kanzleramt nachzufolgen. (Foto: dpa)
  • Der Rücktritt der Bundeskanzlerin offenbart die Stärken der Demokratie gegenüber dem dynastischen Prinzip.
  • Ihre Macht ist beschränkt und die Wechsel an der Spitze geschehen unblutig. Allerdings geht Merkel andere Risiken ein.
  • Ihre verbleibende Zeit als Regierungschefin ist doppelt eingeschränkt - zeitlich und jemand anderem als Parteivorsitzendem.

Von Gustav Seibt

Die demokratische Regierungsform vergibt Macht nur auf Zeit. Außerdem verspricht sie, den regelmäßigen Wechsel der Machthaber unblutig, nämlich in den Bahnen einer Verfassung zu vollziehen. Um zu erfahren, dass das nicht selbstverständlich ist, muss man nur hundert Jahre zurückblicken. Der historische Zufall will es, dass Angela Merkels jüngste Ankündigungen zum Ende ihrer Zeit als Parteivorsitzender und danach als Bundeskanzlerin fast auf den Tag zusammenfallen mit dem Beginn der Novemberrevolution und der Abdankung des letzten deutschen Kaisers 1918.

Dem im Frieden durchaus mächtigen Kaiser war keine Beschränkung seiner Regierungszeit auferlegt. Ohne den verlorenen Weltkrieg hätte er seinen Thron womöglich bis zu seinem Tod 1941 innehaben können. Dann hätte ihn der Kronprinz, sein rechtmäßiger Erbe, übernommen. Dem vorzeitigen Rücktritt folgte kein friedlicher Ruhestand, sondern die Flucht ins Exil. Die deutsche Revolution von 1918 war nicht übermäßig blutig, aber einen gewaltigen Umsturz bedeutete sie doch, das Ende von tausend Jahren Monarchie in Deutschland. Erst ein Dreivierteljahr später hatte das Reich eine neue Verfassung, diesmal mit zwei Staatsspitzen auf Zeit, einem Präsidenten und einem Kanzler.

Diese zeitliche Beschränkung hielt Karl Popper, der Philosoph der offenen Gesellschaft, für das Wichtigste an einer demokratischen Verfassung. "Demokratie" im wörtlichen Sinne, als "Herrschaft des Volkes" könne es nicht geben. Das "Volk" der Verfassung ist keine Person, es hat keinen einheitlichen Willen. Es besteht aus Millionen wahlberechtigten und debattierenden Staatsbürgern. In dieser Funktion kann es in einer Demokratie alle paar Jahre seine Regierung beurteilen und entweder von Neuem beauftragen oder entlassen. In dieser Möglichkeit sah Popper einen starken Anreiz zu gutem Regieren.

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Im Übrigen verstand er die demokratische Verfassung vor allem als Mechanismus zur Verhinderung von Tyrannei und Gewalt. Dabei dachte er nicht nur an Monarchen, Diktatoren, Militärapparate und Parteioligarchien, sondern auch an tyrannische Mehrheiten, die jene Teile des Volkes unterdrücken, die nicht ihrer Meinung sind. In der Mitte des 20. Jahrhunderts, als Popper seine Gedanken formulierte, blickte man auf lange Erfahrungen mit Gewaltherrschaften im Namen des Volkes zurück. Die zeitliche Beschränkung der Regierung gehört in einem System von Menschenrechten, Rechtsstaat und Gewaltenteilung zu den Ecksteinen der Tyrannisverhinderung.

Zwei Formen des Machtverlusts hat die Kanzlerin vorwegnehmend ausgeschaltet

Wenn jetzt also gefragt wird, ob Angela Merkel durch die selbstverkündete Begrenzung ihrer Amtszeit schwächer werde, dann kann man abstrakt-allgemein antworten: Ja, das ist so, und das ist vom politischen System auch so gewollt. Das wäre bei einer von der Verfassung vorgeschriebenen Beschränkung der möglichen Amtszeiten, wie beispielsweise die Vereinigten Staaten sie haben, nicht anders - allerdings wird das im Fall der USA durch eine präsidiale Machtfülle aufgefangen, die weit über die Stellung eines Bundeskanzlers hinausgeht. In Großbritannien ist der Premierminister Herr über den Wahltermin, hier stellt sich das Verhältnis von Macht und Zeit also modifiziert da, denn er kann günstige Momente suchen und ungünstige vermeiden.

Dass sich in Europa über Jahrhunderte die Erbmonarchie mit lebenslangen Regierungszeiten und dynastischen Nachfolgeregelungen behauptete, hat nun ebenfalls mit dem Imperativ der Gewaltvermeidung zu tun. In vormodernen Zeiten war die dynastische Legitimität ein starkes Mittel, um unblutige Machtübergaben zu organisieren. Die Legitimität des Blutes entzog die Staatsspitzen dem Wettbewerb, gar dem Kampf der Großen, vor allem in ausgedehnten Monarchien. Auch Eingriffe von außen konnten damit unwahrscheinlicher gemacht werden.

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Wahlmonarchien wie die deutsche oder die polnische waren schwach, Versuche der Monarchen, ihre Nachfolger aus ihren Nachkommen selbst auszuwählen, wie im Russland des 18. Jahrhunderts, endeten in Mord und Totschlag. Die Primogenitur, das Erbrecht des Erstgeborenen mit all seiner Zufälligkeit, stellte sich als die am wenigsten bestrittene Form heraus, Herrschaft weiterzugeben.

Doch gab es gefährliche Zufälle: Der Erbe konnte ein Kind sein. Dann wurden Regentschaften bis zum Erreichen der Volljährigkeit des Monarchen eingerichtet. Je näher der Termin der Machtübergabe an den jungen König rückte, umso nervöser wurden die Höfe. Das galt auch bei Alter und Hinfälligkeit von Monarchen mit erwachsenen Kronprinzen. Der legitime Erbe war die "künftige Sonne", wie es Friedrich Wilhelm I. von Preußen nannte, als er Anklage gegen Hans Hermann von Katte erheben ließ, der seinem Sohn, dem Kronprinzen Friedrich, bei dessen Fluchtversuch geholfen hatte. Mit dieser künftigen Sonne habe Katte "tramiret", also eine Verschwörung angezettelt. Oft hielten machtbewusste Könige - zum Beispiel Friedrich der Große - ihre Nachfolger bewusst auf Abstand, um solche Situationen des innerfamiliären Wettbewerbs im Regierungshaus zu vermeiden.

Noch schlimmer war es, wenn kein Erbe vorhanden und die Nachfolge umstritten war. Erbfolgekriege waren der internationale Preis für das Ausfallen der sonst so effizienten legitimistischen Nachfolgeregelungen. Ganz Europa wartete vor 1700 aufs Ableben des letzten spanischen Habsburgers. Der darauf folgende Krieg zog sich über zwölf Jahre hin. Noch der deutsch-französische Krieg von 1870/71 entzündete sich an einer Thronkandidatur. Dabei war in Europa das Prinzip der monarchischen Legitimität seit der Revolution von 1789 zunehmend ausgehöhlt worden. Dass es auf dem Wiener Kongress 1815 noch einmal so entschieden hochgehalten wurde, zeigte seine Altersschwäche. Aus einem selbstverständlichen Gebrauch wurde ein Prinzip.

Was hat das mit Angela Merkel zu tun? Mit ihrer doppelten Ankündigung - Ende ihrer Zeit als Parteivorsitzende und Verzicht auf eine weitere Amtszeit - hat sie zwei Formen des Machtverlusts nach Möglichkeit vorwegnehmend ausgeschaltet: Erstens die innerparteiliche Palastrevolte, zweitens die Abwahl durch das Volk. Das unterscheidet sie von ihren beiden ähnlich lange regierenden Vorgängern: Adenauer wurde von den eigenen Leuten aus dem Amt gedrängt, Kohl abgewählt. Dass Merkels Schritt zum letzten möglichen Zeitpunkt kommt, ist davon unberührt.

Ihre verbleibende Zeit als Regierungschefin steht nun unter einer doppelten Einschränkung

Ihre verbleibende Zeit als Regierungschefin steht nun unter einer doppelten Einschränkung: Erstens ist ihre Regierungszeit konkret terminiert, was nicht überraschend ist, denn so war es längst vorgesehen. Zweitens aber wird sie demnächst mit einer Kronprinzessin oder einem Kronprinzen leben müssen, einer "künftigen Sonne" also. Anders als die SPD hat es die CDU bisher immer so gehalten, dass der Parteivorsitzende auch der Kanzlerkandidat ist. Wer jetzt in der CDU zum Vorsitzenden gewählt wird, hat große Chancen, nach dem Willen der Partei Nachfolger von Angela Merkel im Kanzleramt werden.

Nun werden in diesen Zeiten viele Üblichkeiten verlassen. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass in der CDU eine archaische Form der Nachfolge kommt: der Diadochenkampf, der Streit möglicher Nachfolgekandidaten. In asiatischen Reichen stritten nicht selten Feldherren und Provinzfürsten mit Gewalt um die Nachfolge von Großkönigen. Das Mittelalter kannte Gegenkaiser und Gegenpäpste. Auch hinter den Kulissen der kommunistischen Parteiapparate wurde über die Nachfolge an der Spitze erbittert gerungen. Dass in der CDU nun ein offener Wettbewerb stattfindet, ist demokratisch zu begrüßen, auch die Öffentlichkeit nimmt lebhaft daran Anteil.

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Entwickelt sich daraus eine "Krise" als "beschleunigter Prozess", um Jacob Burckhardts Definition zu zitieren? Dagegen sprechen die Vorgaben der Verfassung, die vor den Sturz der Bundeskanzlerin hohe Hürden gelegt haben. So kann die CDU nicht allein über den Kanzler bestimmen, ein Sturz Merkels ist ohne das Mittun eines oder mehrerer Koalitionspartner nicht zu bewerkstelligen. Aber natürlich können ein künftiger Parteivorsitzender und der Fraktionsvorsitzende Merkels Spielraum fühlbar beschränken. Unwahrscheinlich, dass die Kanzlerin das nicht bedacht hätte.

Im Fall einer größeren äußeren Krise - beispielsweise des Euro durch die italienischen Vertragsbrüche -, würde die amtierende Kanzlerin allerdings gestärkt. Kein Kandidat könnte es sich erlauben, die Stellung der deutschen Regierung zu schwächen. Ob diese Legislatur bis an ihre reguläres Ende kommt, steht trotzdem in den Sternen. Das Grundgesetz hat für diese Eventualitäten vorgesorgt. Verfassungen, die Regierungszeiten beschränken und Gewalt ausschließen, gehören zu den größten Errungenschaften der Menschheit. Man sollte sie durch strikte Befolgung schonen und bewahren.

© SZ vom 02.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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