In den Augen ihres Verlags hat Alexa Hennig von Lange einen "Schatz" gefunden. Die Autorin, die in den 1990er-Jahren der Popliteratur zugerechnet wurde, seit einiger Zeit aber vorwiegend leichte Unterhaltungs- und Jugendliteratur schreibt, konnte für ihren neuen Roman auf Erlebtes zurückgreifen. Ihre Großmutter dokumentierte mit über neunzig Jahren ihre eigene Lebensgeschichte zwischen 1908 und 1965 auf mehr als 130 Kassetten.
Hennig von Lange hat aus diesem Stoff eine Romantrilogie entworfen, deren erster Band mit dem Titel "Die karierten Mädchen" jetzt erschienen ist. Er schildert die Erlebnisse einer jungen Frau, die, wie die Großmutter der Autorin, in den 1930er-Jahren als Lehrerin an einer Kinderheilstätte und als Leiterin einer Erziehungsanstalt für junge Mädchen tätig war.
Wie Hennig von Lange im Nachwort berichtet, "verstörte" sie beim Anhören der Kassetten vor allem das, was ihre Großmutter nicht erzählte: "Sie beschrieb Schülerinnen und Kinder, Charaktereigenschaften, Gespräche, Einweihungsfeiern, die Vegetation und die Besuche hoher Funktionäre, aber nicht, dass wenige Gehminuten entfernt die Synagoge brannte."
Es wäre reizvoll gewesen, wenn die Autorin gerade diese Aussparungen, dieses Schweigen ernst genommen und daraus Konsequenzen für die erzählerische Form ihres Romans gezogen hätte. Auf diese Weise wäre es vielleicht gelungen, das zur Darstellung zu bringen, was die Autorin in den Aufzeichnungen ihrer Großmutter vorgefunden hat - eine von Widersprüchen geprägte Biografie. Hennig von Lange hat sich für das Gegenteil entschieden. Sie hat die Lücken in der Erzählung durch einen moralisch gesättigten Geschichtsunterricht in der Form eines literarischen Erlebnisberichts aufgefüllt.
Alle wesentlichen Ereignisse der späten 1920er- und 1930er-Jahre werden aus der Perspektive der Protagonistin Klara geschildert, die, genau wie Hennig von Langes Großmutter, im hohen Alter ihre Erinnerungen aufnimmt und zwischen gegenwärtigen Reflexionen, kritischen Selbstbefragungen und der Schilderung des Vergangenen hin- und herspringt.
Die junge Klara ist 1929 ebenso "ehrfürchtige" Zuschauerin der Zweihundertjahrfeier für den "großen Philosophen Moses Mendelssohn" in der jüdischen Synagoge Dessaus, wie sie neun Jahre später entsetzt den Brand und die Plünderung des Gotteshauses beobachtet. Sie besucht die Ausstellung "Entartete Kunst", wo die Masse der Zuschauer Spaß daran hat, "Mitmenschen zu diffamieren, zu verraten und zu erniedrigen", während sie selbst die geschmähten Bilder wie einen "Regen farbiger Edelsteine" wahrnimmt, die nur so vor "Schaffenskraft" funkeln.
Klaras Perspektive vermittelt zur Sicherheit immer auch gleich deren Deutung
Am Tag nach der Reichsprogromnacht läuft sie "zitternd" durch die Straßen von Goslar, wo sich die Leute "am Leid ihrer Nachbarn" sattsehen. Und als im Radio über die Bücherverbrennung berichtet wird, äußern sich Klara und ihre Freundin Susanne schockiert über die "furchtbare Geisteskrankheit", die diese "hirnlose" Tat offenbare. Klaras Perspektive vermittelt mit der Erzählung der Ereignisse immer zugleich deren Deutung. Hier die nationalsozialistischen "Monster" und der wütende Mob, da die entsetzten jungen Frauen.
Die Lebensgeschichte der Hauptfigur soll nach dem Wunsch der Autorin "moralische Fragen" aufwerfen. Doch die Welt, die Hennig von Lange zeichnet, ist zu schablonenhaft, um echte Widersprüche sichtbar werden zu lassen. Um die Erziehungseinrichtung vor der Schließung zu bewahren, kooperiert Klara mit den nationalsozialistischen Machthabern. Die Funktionäre, die das Heim besuchen, erlebt Klara als "kalt" und brutal. Ihre Integrität steht an keiner Stelle des Romans infrage.
Vollends schematisch und klischeehaft aber wird die Geschichte durch einen zusätzlichen fiktiven Handlungsstrang, den die Autorin der Lebensgeschichte ihrer Großmutter verliehen hat: Als die jüdische Waise Tolla im Alter von wenigen Monaten in die Heilstätte gebracht wird, gibt Klara das Mädchen kurzerhand als ihre eigene Tochter aus, um es so vor dem Zugriff des Regimes zu schützen. Tolla steht nach Auffassung der Autorin für den "Verlust der Unschuld" und den "Schmerz", der entstehe, wenn sich eine "ganze Gesellschaft gegen die Menschlichkeit wendet".
Die Komplexität individueller Biografien schrumpft zu rührseliger Symbolik
Wenn Figuren zu Allegorien von Schuld oder Unschuld und zur Verkörperung von Prinzipien werden, dann schrumpfen die Komplexität geschichtlicher Ereignisse und die Widersprüche individueller Biografien auf rührselige Symbolik zusammen. Das Politische wird bei Hennig von Lange auf einfache Gegensätze und Gefühlskonflikte reduziert. Sprachlich ist der Roman an vielen Stellen durch einen überbordenden Gebrauch von Adjektiven und schiefen Bildern geprägt: "Der warme Wind floss über ihre Wangen, als sie im kühlen Kiefernwald verschwand und das Rad über die kleinen Schlaglöcher sprang."
Kitsch, so hat es Adorno formuliert, "parodiert Katharsis". Gemeint ist damit, dass ein Bedürfnis nach Harmonie und Sentimentalität bedient wird, indem man Konflikte so auflöst, dass keine Zweideutigkeiten und Spannungsverhältnisse mehr bestehen bleiben. Kitschige Texte setzen sich selbst und ihrem Publikum keinem Risiko aus. Sie bestätigen, was man bereits wusste und geglaubt hat.
Hennig von Lange, so scheint es, hat gerade im Versuch, sich mit den Widersprüchen im Leben ihrer Großmutter auseinanderzusetzen und mit ihr in ein "Gespräch" zu kommen, vieles geglättet und vereinfacht. Vielleicht wäre es in diesem Fall besser gewesen, etwas weniger auf die eigene Fantasie und die eigenen Vorstellungen vom Guten und Bösen zu setzen, als darauf, dass die besten Geschichten das Leben selbst schreibt.
Alexa Hennig von Lange: Die karierten Mädchen. Roman. Dumont, Köln 2022. 368 Seiten, 22 Euro.