Das Politische Buch:Operation Desaster

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Nicht (nur) willkommen: Afghanen zeigen im Jahr 2012 vor der US-Airbase Bagram, was sie von der Anwesenheit der Soldaten in ihrem Land halten. (Foto: Massoud Hossaini/AFP)

Der amerikanische Journalist Craig Whitlock leuchtet die verheerende und zynische Afghanistan-Politik Washingtons aus - und setzt damit Maßstäbe.

Von Bernd Greiner

Zum Fiasko in Afghanistan gibt es Dutzende Bücher. Aber keines mit dieser Fülle an Informationen und einer derartigen Tiefenschärfe. Die Rede ist von den "Afghanistan Papers", der jüngsten Publikation von Craig Whitlock, preisgekrönter Reporter bei der Washington Post und Chronist des Krieges am Hindukusch seit 2001. Als Erster hatte er Zugriff auf mehr als eintausend Interviews mit Soldaten, Offizieren, Diplomaten und Experten diverser Ministerien, erstellt von einem Untersuchungsausschuss der US-Regierung. Sodann sichtete Whitlock die legendären "Snowflakes", Kurzmitteilungen, die Verteidigungsminister Donald Rumsfeld diktierte und wie papierne Schnipsel über den zuständigen Abteilungen des Pentagon niederrieseln ließ. Damit sind nur die wichtigsten Quellen einer Studie benannt, die Maßstäbe für alle künftigen Abhandlungen zum Thema setzt.

Schnörkellos räumt der Autor die zählebige These vom nation building aus dem Weg. Von wegen Demokratisierung, von wegen Hilfestellung für eine künftige Zivilgesellschaft in Afghanistan. Die Unsummen, die nach Kabul flossen (inflationsbereinigt weit mehr als die Marshallplan-Hilfe für die Revitalisierung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg), wurden ohne Sinn und Verstand, vor allem aber an die falschen Partner verteilt. Dubiose Empfänger in Politik und Verwaltung wirtschafteten in die eigene Tasche und erpressten ihre Wohltäter mit einem altbekannten Trick - der Drohung nämlich, den Zusammenbruch des Landes nicht mehr verhindern zu können, sollte der Geldstrom gedrosselt werden.

Es ging um Dollardiplomatie, nicht um "nation building"

Washington hatte sich mit einem nation building also nicht übernommen. Man dachte erst gar nicht darüber nach, weder über die Voraussetzungen und erst recht nicht über die Ziele und Mittel. So aber planierte die Dollardiplomatie den Weg in eine Kleptokratie, die jedes Zukunftsversprechen desavouierte.

"Wir hatten nicht die Spur einer Idee, was wir in Afghanistan eigentlich machten." Mit diesen Worten kritisierte General Douglas Lute, im Frühjahr 2007 zum militärischen Koordinator für die Region bestellt, nicht allein die Wirtschaftspolitik, sondern ein anderes Desaster ähnlicher Größenordnung - die Strategie des Pentagon. Donald Rumsfeld formulierte es noch drastischer: "Ich kann mir einfach keine Vorstellung davon machen, wer in Afghanistan die bösen Jungs sind." Diese und andere Passagen des Buches klingen derart unglaublich, dass man sie mehrmals lesen muss, um die naheliegende Konsequenz zu begreifen: Wer Freund und Feind nicht auseinanderhalten kann, tötet auf Verdacht und bemisst seinen Erfolg an der schieren Zahl der Opfer. Die Fülle der von Whitlock vorgebrachten Belege zeigt nicht nur, dass Washington die Zahl seiner Feinde damit multiplizierte. Diverse US-Regierungen spielten den Taliban auch insofern in die Karten, als im Laufe der Zeit immer mehr Afghanen die naheliegende Frage stellten, wen sie eigentlich für das kleinere Übel halten sollten.

Die Pointe der Geschichte ist indes eine andere. Sie handelt davon, dass dieses Schlamassel bekannt war und von unterschiedlichen Akteuren auf buchstäblich allen Entscheidungsebenen immer wieder angesprochen wurde. Und sie dreht sich darum, wie die Überbringer der zutreffenden Nachrichten ein um das andere Mal abgekanzelt, zum Schweigen verurteilt oder ihrer Ämter enthoben wurden. Stattdessen setzten die Stäbe von George W. Bush und Barack Obama "Fake News" in die Welt, die man gemeinhin Donald Trump zuschreibt - ein Gebräu aus Schönfärbereien, wolkigen Erfindungen und dreisten Lügen. Die im Dezember 2014 mit viel Aplomb versehene Ankündigung vom Ende aller Kampfeinsätze gehört zu den besonders bizarren Beispielen. Wie realitätsfremd auch immer, das Reservoir der Erfolgsmeldungen schien unerschöpflich zu sein. Siehe die Mär von der absehbaren Gleichberechtigung afghanischer Frauen oder vom Aufstieg eines neuen Mittelstandes.

Um jeden Preis sollte der Anschein von Schwäche vermieden werden

Doch woher rührt das fortgesetzte Leugnen? Warum saß Washington in der Falle des "Nicht-Aufhören-Könnens" fest? Auf diese Frage kommt Whitlock immer wieder zurück, sie ist das eigentliche Leitthema seiner Darstellung. Entsprechend vielfältig ist das Angebot der Antworten. Wenn eine Überlegung heraussticht, dann diese: Es ging wie so oft um die Symbolik der Tat oder um das verzweifelte Bemühen, den Anschein von Schwäche erst gar nicht aufkommen zu lassen. Im Grunde wurde ein Zirkelschluss zur strategischen Weisheit aufgepumpt: Man muss Entschlossenheit demonstrieren, um seine Interessen zu schützen. Und Amerikas Interesse besteht darin, entschlossen aufzutreten. Andernfalls, und damit war das Dogma endgültig fixiert, drohen der Abstieg in eine untere Gewichtsklasse und der Verlust von Führungskompetenz.

Die letzten Jahre des Krieges standen nur noch im Zeichen dieser Imagepflege. Was immer am Hindukusch geschah, auf die USA sollte so wenig wie möglich zurückfallen. Deshalb flutete die Regierung Obama das Land noch einmal mit Geld für eine Reihe weltfremder Projekte. Ob Elektrizitätswerke im Nirgendwo gebaut, ob Schulen in Gegenden ohne Schüler eröffnet oder absurde Zeitpläne für den Aufbau einer afghanischen Armee aufgelegt wurden, spielte keine Rolle - Hauptsache, es wurde Zeit gekauft, um am Ende sagen zu können, dass selbst der großzügigste Helfer passen muss, wenn der Empfänger mit der Hilfe nichts anzufangen weiß. Die Rekonstruktion dieses zynischen Kalküls gehört zu den stärksten Passagen des Buches.

Einen für den Rest der Welt ebenso niederschmetternden Befund hat General Anthony Zinni, ehemals Chef des US-Regionalkommandos für den Nahen Osten, Ostafrika und Zentralasien, prägnant zusammengefasst: "Ich habe diesen Film schon einmal gesehen. Er hieß Vietnam." Womit gemeint war, dass Washington nicht nur aus früheren Fehlern nichts gelernt hat. Sondern dass gute Gründe für eine noch weitreichendere Annahme sprechen: Wer sich zum wiederholten Male derart verheddert, hat offensichtlich den Willen, wenn nicht die Fähigkeit zu einer Selbstkorrektur verloren.

In jedem Fall wären die Parlamentarier, die demnächst in Berlin eine Bilanz des deutschen Afghanistaneinsatzes ziehen wollen, mit einer Lektüre der "Afghanistan Papers" (bisher nur im amerikanischen Original erhältlich) gut beraten. Denn diese Studie leuchtet nicht allein den Maschinenraum amerikanischer Sicherheitspolitik aus. Sie zeigt obendrein, wie es um die neuerdings in den USA gehandelte Behauptung bestellt ist, beim nächsten Mal alles besser machen zu können.

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