70. Filmfestival in Venedig:Reif für San Servolo

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James Franco zusammen mit dem Hauptdarsteller seines Filmes "Child of God" Scott Haze bei den 70. Filmfestspielen von Venedig. (Foto: REUTERS)

Auf dem 70. Filmfestival von Venedig zelebrieren James Franco, Xavier Dolan und Christoph Waltz den Abstieg in den Wahnsinn. Sie zeigen Außenseiterfiguren, die so auch San Servolo entsprungen sein könnten - der ehemaligen geschlossenen Anstalt Venedigs.

Von Tobias Kniebe, Venedig

Wer die schnelle Bootsverbindung vom Markusplatz Richtung Lidostrand nimmt, wo das Filmfestival stattfindet, fährt dicht an der mysteriösen kleinen Insel San Servolo vorbei. Weitläufige, weiß gestrichene Gebäude bilden die Front zum Wasser hin, alles ist vergittert, es gibt eine Kirche mit doppeltem Zwiebelturm, steinerne Mauern umschließen den Garten. Selbst wenn man ahnungslos vorbeigleitet, weht mit dem Wind der Lagune sofort eine seltsame Beklemmung herüber. Und wenn man dann erfährt, dass hier bis in die Siebzigerjahre eine geschlossene psychiatrische Anstalt war, wundert das einen auch nicht mehr.

Auf dem Weg zu James Francos "Child of God" weckt der Anblick von San Servolo Vorahnungen. Am Markusplatz grinst Franco, der fusselbärtige Tausendsassa zwischen Hollywood und Experimentalkunst, noch haushoch von einem Gucci-Plakat. Im Wettbewerb am Lido aber macht er ernst als Regisseur. Sein Film ist die weitgehend werktreue Verfilmung eines frühen Romans von Cormac McCarthy, der die weitgehend unerträgliche Leidensgeschichte des geistig behinderten Outlaws Lester Ballard erzählt, die um 1960 herum in den Appalachen von Tennessee spielt.

Den denkbar härtesten Weg gehen

Wie kann man von einem völlig verwilderten Mann erzählen, der in den Wäldern haust und wirr zu sich selbst spricht, der vom väterlichen Hof vertrieben wurde, der eines Tages die Leiche einer Selbstmörderin findet, sie in seine Hütte schleppt und sich immer wieder an ihr vergeht? Franco macht klar, dass er den denkbar härtesten Weg gehen will, wenn er seinen Protagonisten gleich zu Anfang seine Notdurft nicht nur ins Gebüsch verrichten lässt, sondern praktisch direkt in die Kamera. Scott Haze, sein unglaublicher Darsteller, hält dabei nichts zurück, auch im Folgenden rotzt, brüllt und tobt er, was die Lungen hergeben.

Ein Martyrium, ganz klar. Der Autor McCarthy, das hat er schon in seinem Titel klargemacht, sucht in dieser Geschichte eine Menschlichkeit, die auch Lester Ballard umfasst, der am Ende zum mehrfachen Mörder wird und doch ein Kind Gottes bleibt. Und obwohl dieses Motiv auch im Film stark zu spüren ist, kann man sich bei James Franco dennoch nie sicher sein: Liebt er nicht doch vor allem die reine Provokationsgeste, diese ganz persönliche Gleichung seines Hipster-Erfolgs?

Hier leiht er sein Gesicht einem Disney-Film, da kassiert er Millionen von Gucci, dann wieder kackt er dem Goldenen Löwen von Venedig vor die Füße. Bewundern muss man allerdings, wie gut das im Augenblick für ihn funktioniert, und wie produktiv er dabei ist.

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Die Anstalt von San Servolo jedenfalls wäre für Lester Ballard und seine Opfer sicher die bessere Lösung gewesen. Möglicherweise auch für den griechischen Regisseur Alexandros Avranas. Der hatte für seinen Film "Miss Violence" die Idee, den Fall Fritzl gewissermaßen aus Österreich nach Griechenland zu importieren und dann nicht in einem Geheimkeller spielen zu lassen, sondern vor aller Augen in der Mitte der Gesellschaft. Und weil das irgendwie noch nicht böse genug war, muss seine Inzest-Bestie, sein allesschwängernder Freudscher "Urvater" zugleich auch noch als oberfieser Zuhälter agieren - komplett absurd.

Ebenfalls am Rande des Wahnsinns balanciert das 24-jährige kanadische Wunderkind Xavier Dolan in seinem neuem Film "Tom à la ferme" - allerdings wesentlich erfolgreicher. Das Ganze ist eine Art sadomasochistischer Koitus interruptus mit absurd-komischen Hitchcockschen Obertönen und einem dennoch realen Gefühl für Gefahr.

Junger Schwuler (Dolan selbst) kommt zum Begräbnis seines Lovers, tief im kanadischen Farmland. Er findet eine Mutter, die sich jeder Wahrheit über ihren Sohn verweigert, und einen Bruder, von dem er sich angezogen und abgestoßen zugleich fühlt, der ebenso sexuell aggressiv wie gewalttätig homophob ist. Anders als so viele Filme im diesjährigen Wettbewerb, die ihre Pathologien immer weitertreiben, bis sie am Ende nur noch töten wollen, findet Dolan hier aber doch einen Weg zurück.

Reif für die Anlegestelle San Servolo

Auf einer Reise der Phantasie, die bis an die Grenzen des Verstandes führt, darf dann schließlich auch Terry Gilliam nicht fehlen - in diesem Genre ist er schließlich einer der Größten. "The Zero Theorem" vereinigt so viele von Gilliams Hauptmotiven in einem neuen Mahlstrom der Imagination, dass man fast an ein Sequel seines Klassikers "Brazil" glaubt.

Christoph Waltz ist eine Art kahlköpfiger Mad Scientist und zugleich nur eine ganz kleine Rechenbiene in einem riesigen Virtual-Reality-Konzern, der den Planeten mit Werbung und Gadgets schon völlig zugemüllt hat. Dem knallbunt-digitalen Multitasking-Wahnsinn der Außenwelt verweigert er sich. Entkommen kann er natürlich trotzdem nicht.

Im Inneren einer nutzlos gewordenen Kathedrale, die er allein mit Ratten und Tauben bewohnt, sitzt er an seinem Terminal und ringt um die Lösung einer unlösbaren mathematischen Gleichung. Noch mehr aber ringt er mit dem Sinn seines Lebens, darin der faustisch strebende Mensch, vielleicht der letzte seiner Art. Wie viel Sinn er am Ende noch findet, wagt man gar nicht zu sagen. Aber Gilliams Design, wie immer zugleich aus dem Rost des Dampfmaschinenzeitalters und aus der Pop-Art geschmiedet, entwickelt hier einmal mehr seinen unwiderstehlichen Sog.

Und daran denkt man nun vor allem, wenn der Wasserbus auf dem Weg zur Mostra del Cinema wieder über die Lagune tuckert: Dass die Träume, Illusionen und alternativen Wirklichkeiten, die sich der menschliche Geist so schaffen kann, ja nicht immer nur glamourös und inspirierend ausfallen - sie können auch hochgefährlich sein. Ein kleiner Griff ins Steuer des Vaporetto, eine winzige Kurskorrektur, und schon ist man nicht mehr auf dem Weg ins Traumland, sondern reif für die Anlegestelle San Servolo.

© SZ vom 03.09.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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