Der Fall Ursula Herrmann:Es bleibt der Zweifel

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1981 erstickte das zehnjährige Entführungsopfer Ursula Herrmann aus Eching am Ammersee qualvoll in einer Kiste. (Foto: Karl-Josef Hildenbrand/picture alliance)

Im Herbst 1981 wird die zehnjährige Ursula Herrmann entführt und getötet. Erst 29 Jahre später fällt ein Urteil gegen den Tatverdächtigen. Erinnerungen an einen der aufsehenerregendsten Kriminalfälle der vergangenen Jahrzehnte.

Von Hans Holzhaider

Es war ein Kriminalfall, der die Menschen erschütterte wie kaum ein zweiter in Deutschland. Am 15. September 1981 war die zehnjährige Ursula Herrmann auf dem Heimweg von Schondorf nach Eching am Ammersee entführt worden. Am zweiten und dritten Tag nach der Entführung klingelte bei den Eltern neun Mal das Telefon. Niemand meldete sich, zu hören waren nur ein Rauschen und die Erkennungsmelodie von Radio Bayern 3. Am 18. und 21. September kamen zwei aus ausgeschnittenen Zeitungsbuchstaben zusammengesetzte Erpresserbriefe, in denen ein Lösegeld von zwei Millionen Mark gefordert wurde. Danach gab es keine Kontaktaufnahme des oder der Entführer mehr.

Zwei Wochen später, am 4. Oktober, entdeckten Polizeibeamte in der Nähe des Entführungsortes eine im Wald vergrabene Holzkiste. Der Gerichtsmediziner Wolfgang Eisenmenger erinnerte sich später an den Anblick, der sich ihm bot, als der mit fünf Riegeln verrammelte Deckel geöffnet wurde: "Da sah man dieses arme Würmchen in der Kiste kauern. Ich sehe es noch, als ob es heute wäre. Das hat mich, obwohl ich abgebrüht bin, sehr, sehr bewegt."

Mich hat es damals auch sehr bewegt. Sich vorzustellen, welche Angst und welches Gefühl der Verlassenheit dieses Kind erlebt haben muss, konnte einem schier das Herz brechen. Und es war schwer, sich einen Täter vorzustellen, der einerseits erbarmungslos genug ist, ein zehnjähriges Kind in eine im Boden vergrabene Kiste einzusperren, und gleichzeitig in scheinbarer Fürsorglichkeit Kekse, Wasser, Comic-Hefte und sogar ein kleines Radio in das unterirdische Verlies legt - ein Stoff für Albträume.

Alle Ermittlungen verliefen im Sande. Jahrelang drehten zwei Sonderkommissionen der Kriminalpolizei buchstäblich jede Tannennadel um. Jedes Holzteil, jede Schraube, jede Textilfaser, jedes Haar aus der Kiste wurde untersucht. Ein Tatverdächtiger, der Inhaber eines kleinen Rundfunk- und Fernsehgeschäfts in Eching, musste wieder entlassen werden, weil ihm drei Freunde ein Alibi gaben. Drei Mal berichtete Eduard Zimmermann in "Aktenzeichen XY... ungelöst" - ohne Ergebnis. Der Fall Ursula Herrmann blieb ein Stachel im Fleisch der bayerischen Polizei, erfahrene Ermittler verzweifelten daran.

Als das Verbrechen geschah, hatte ich als Journalist mit Kriminalität nichts zu tun. Ich war Lokalredakteur in Dachau, später Korrespondent für bayerische Landespolitik. Als ich 1996 Gerichtsreporter wurde, hätte sich niemand träumen lassen, dass der Entführungsfall Ursula Herrmann noch jemals aufgeklärt werden könnte. Aber dann kam im Mai 2008 eine Einladung der Staatsanwaltschaft Augsburg zu einer Pressekonferenz: Es gebe neue Erkenntnisse im Fall Ursula Herrmann, ein Tatverdächtiger sei festgenommen worden.

Eine Sensation! Aber konnte das wirklich wahr sein? Wo sollten jetzt, 27 Jahre nach der Tat, plötzlich neue Erkenntnisse hergekommen sein? Ich fuhr mit einiger Skepsis nach Augsburg. Reinhold Nemetz, der Chef der Augsburger Staatsanwaltschaft, war mir nicht als ein Mann von überschäumender Fröhlichkeit bekannt. Aber an diesem Freitagnachmittag strahlte er über das ganze Gesicht, schüttelte jedem Journalisten, der zur Pressekonferenz erschien, persönlich die Hand. Neben ihm auf dem Podium saßen die Oberstaatsanwältin Brigitta Baur und ein Beamter vom Landeskriminalamt München, vor sich auf dem Tisch hatten sie ein altes Spulentonbandgerät der Marke Grundig. Das, erläuterte uns Nemetz, sei das Beweisstück, das den Durchbruch in den Ermittlungen gebracht habe. Man hatte es bei der Wohnungsdurchsuchung eines Mannes namens Werner Mazurek gefunden, der in Kappeln in Schleswig-Holstein ein Geschäft für Bootsbedarf betrieb.

Dieser Mazurek aber war ebenjener Tatverdächtige, der schon damals nach der Entführung vorübergehend festgenommen worden war und den man wegen seines Alibis wieder auf freien Fuß setzen musste. Eine Sachverständige des LKA, erläuterte die Staatsanwältin Baur, habe an dem Tonbandgerät individuelle, technische Merkmale festgestellt, aus denen sich schließen ließ, dass dieses Gerät "wahrscheinlich" bei den Erpresseranrufen bei der Familie Herrmann benutzt worden sei. Das sei ein "ganz gewaltiges objektives Indiz", sagte Nemetz, aus dem sich, im Verbund mit anderen Indizien, ein "dringender Tatverdacht" ergebe. Was das für andere Indizien waren, wollte er nicht verraten. Er wollte nicht einmal verraten, warum er es nicht verraten wollte. "Ermittlungstaktische Gründe", sagte er. "Wir sind doch nicht doof."

Meine Skepsis war nach der Pressekonferenz nicht geringer als vorher. Wahrscheinlich? Mit "wahrscheinlich" kann man keinen Prozess gewinnen. Um einen Angeklagten zu verurteilen, muss ihm seine Schuld nachgewiesen werden, und zwar jenseits jedes vernünftigen Zweifels. Eine Wahrscheinlichkeit reicht da nicht aus. Aber darüber musste ich mir als Gerichtsreporter nicht den Kopf zerbrechen. Der Prozess würde zeigen, was von dem Tatverdacht übrig blieb.

Es ist nicht mein Job, selbst nach Indizien oder Beweisen zu fahnden, selbst Zeugen zu befragen, mich selbst auf die Suche nach der Wahrheit zu machen. Alles, was ich darüber wissen muss, werde ich im Prozess miterleben. Denn nach deutschem Recht muss das Gericht sich sein Urteil "aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung" bilden. Das heißt, alles, was für die Urteilsfindung wichtig ist, muss in öffentlicher Verhandlung erörtert werden - jede Zeugenaussage, jedes Dokument, jedes Indiz, jedes Beweisstück, jedes Sachverständigengutachten. Alles, was ich für meine Berichterstattung brauche, ist ein Schreibblock, ein Stift - und das Stehvermögen, um oft viele Verhandlungstage lang bei meistens sehr schlechter Luft konzentriert zuzuhören.

Ich recherchiere selten außerhalb des Gerichtssaals. Manchmal schaue ich mir einen Tatort an, um mir eine bessere Vorstellung machen zu können. Ich spreche mit Verteidigern, Nebenklägervertretern, dem Pressesprecher des Gerichts, manchmal auch mit den meist wenig auskunftsfreudigen Staatsanwälten, wenn ich, sei es akustisch oder inhaltlich, etwas nicht richtig verstanden habe. Das kommt ziemlich oft vor, denn die Akustik in Gerichtssälen ist oft ziemlich mies, und wenn lange Dokumente verlesen oder umfangreiche Anträge gestellt werden, ist es unmöglich, alles wörtlich mitzuschreiben. Niemals (mit seltenen Ausnahmen) spreche ich mit Zeugen oder mit einem Angeklagten. Was sie zu sagen haben, sollen sie im Gerichtssaal sagen.

Es gab keinen wirklich zwingenden Beweis für die Täterschaft Mazureks

Der Prozess gegen Werner Mazurek begann am 18. Februar 2009, er endete am 25. März 2010 mit der Verkündung des Urteils: lebenslange Haft wegen erpresserischen Menschenraubes mit Todesfolge. Dazwischen lagen 54 Verhandlungstage, an denen 200 Zeugen gehört und 50 Gutachten verlesen worden waren. Wenn man seriös über einen Prozess berichten will, muss man an möglichst vielen Prozesstagen selbst im Gerichtssaal sitzen. Das ist nicht immer möglich. Es gibt Urlaubszeiten, es gibt Überschneidungen mit anderen Terminen. Ich versuche, mich vorher zu informieren, wann wichtige Zeugen gehört werden, wann wichtige Beweismittel zur Sprache kommen. Aber der Ablauf einer Gerichtsverhandlung ist oft nicht vorhersehbar. Es kommt vor, dass ein Angeklagter, der lange geschwiegen hat, sich plötzlich entschließt zu reden. Oder ein Zeuge erscheint nicht, und das Gericht nutzt die Zeit, um ein wichtiges Video in Augenschein zu nehmen. Dann muss ich sehen, wie ich mich auf dem Laufenden halte.

Oft helfen die Kollegen von anderen Zeitungen. In einem lang andauernden Prozess entwickelt sich meist eine zuverlässige Solidarität zwischen den Gerichtsreportern. Aber genauso wichtig ist es, ein vertrauensvolles Verhältnis zu den Rechtsanwälten aufzubauen und zu pflegen. Sie dürfen Journalisten keinen Einblick in die Ermittlungsakten geben; wenn sie es trotzdem tun, müssen sie sich darauf verlassen können, dass nicht wörtlich daraus zitiert wird und der Quellenschutz absolut gewährleistet ist.

Vom Prozessauftakt bis zur Urteilsverkündung habe ich 25 Berichte geschrieben, ich schätze, dass ich an etwa 40 der 54 Verhandlungstage im Gerichtssaal war. Am ersten Prozesstag beteuerte der Angeklagte in einer langen Erklärung seine Unschuld. Er versuchte, alle belastenden Indizien zu entkräften, es war ein durchaus überzeugender, selbstbewusster Auftritt. Meine Zweifel, dass man ihm die Tat nachweisen könne, wurden nicht geringer. Großen Raum in der Beweisaufnahme nahmen die Aussagen der damals ermittelnden Kriminalbeamten ein. Sie berichteten von einem Zeugen, der zunächst gestanden hatte, er habe im Auftrag Mazureks das Loch im Wald gegraben, in dem später die Kiste versenkt wurde, der dieses Geständnis aber noch am selben Tag widerrufen hatte. Der Mann war Alkoholiker, nicht gerade ein mustergültiger Zeuge, und er war längst verstorben; man konnte ihn selbst nicht mehr befragen. Aber immerhin - welchen Grund hätte er haben sollen, Mazurek fälschlich zu beschuldigen? Der Widerruf dagegen erschien plausibel; ihm musste ja schnell klar geworden sein, dass er sich mit dieser Aussage selbst der Mittäterschaft bezichtigt hatte.

Dann berichtete die frühere Ehefrau des Angeklagten, wie dieser einmal den Familienhund, über den er sich geärgert hatte, kurzerhand in die Tiefkühltruhe steckte und ihn dort erfrieren ließ. Kein Beweis, dass Mazurek der Entführer war, aber doch ein Schlaglicht auf seinen Charakter - es gehört ja schon ein ganz besonderes Naturell dazu, ein Kind in eine Kiste zu sperren und zu vergraben.

Schließlich kam der 35. Verhandlungstag. An diesem Tag erschien die Sachverständige für Phonetik des Landeskriminalamts und erläuterte die technischen Besonderheiten des Tonbandgeräts, das in der Wohnung Mazureks gefunden wurde. Eine leichte Fehlstellung der Tonköpfe hatte zur Folge, dass die Tonfolge des Bayern-3-Jingles auf charakteristische Weise verzerrt wurde - genauso, wie man es bei den mysteriösen Erpresseranrufen hören konnte. Die Gutachterin trug ihre Ergebnisse so klar, schlüssig und überzeugend vor, dass ich danach kaum noch Zweifel hatte. Dass ausgerechnet dieses Gerät mit diesen individuellen Merkmalen im Besitz des Mannes war, der auch durch eine Reihe anderer Indizien schwer belastet wurde, das, dachte ich, wäre schon ein extrem unwahrscheinlicher Zufall. Zumal Mazureks Geschichte, wie er das Tonband auf einem Flohmarkt erworben hatte, durch eine ganze Reihe von Zeugen nahezu sicher widerlegt wurde.

Zweifel blieben trotzdem. Es gab keine DNA-Spur, die Mazurek als Täter überführt hätte, keinen Fingerabdruck, keine einzige Spur, die ihn mit dem aufwendigen Bau der Kiste in Verbindung gebracht hätte - kurz gesagt: Es gab keinen wirklich zwingenden Beweis. Und es war völlig klar, dass er, wenn er denn der Täter war, mindestens einen Mittäter haben musste. Allein hätte er die 60 Kilo schwere Kiste niemals in den Wald bringen und vergraben können. Es war einer jener Prozesse, in denen ich dankbar war, dass nicht ich derjenige war, der ein Urteil fällen musste.

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