Prozess: Ursula Herrmann:Spurensuche in der Sinuskurve

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Herzstück der Anklage: Im Augsburger Prozess um den Tod der kleinen Ursula Herrmann ist ein verräterisches Tonband-Knacken Hauptindiz.

H. Holzhaider

Dies ist der 35. Verhandlungstag im Prozess um die Entführung und den Tod der zehnjährigen Ursula Herrmann, und es könnte gut sein, dass Werner M., der Angeklagte, diesen Tag einmal als den betrachten wird, an dem sich sein Schicksal entschieden hat. Denn an diesem Tag hat Dagmar Boss, 51, Sachverständige des Bayerischen Landeskriminalamts (LKA) im Sachgebiet Phonetik, ihr Gutachten über ein Tonbandgerät erstattet, das im Oktober 2007 bei einer Durchsuchung des Wohnhauses von Werner M. und dessen Ehefrau in Kappeln (Schleswig-Holstein) gefunden wurde.

Dieses Tonbandgerät vom Typ Grundig TK 248 ist sozusagen das Herzstück der Anklage. Wenn Staatsanwältin Brigitta Baur das Gericht davon überzeugen kann, dass dieses Gerät bei den fünf mysteriösen Schweigeanrufen benutzt wurde, die am zweiten und dritten Tag nach der Entführung bei den Eltern Ursula Herrmanns eingingen, dann wird Werner M. verurteilt werden. Wenn es der Verteidigung gelingt, dieses Beweismittel zu erschüttern, dann spricht viel dafür, dass der Angeklagte freigesprochen werden muss.

Deshalb herrscht zum ersten Mal seit Wochen wieder Hochspannung im Augsburger Schwurgerichtssaal, als Dagmar Boss zu ihrem Vortrag anhebt. Sie gibt zunächst einen kleinen Grundkurs in Phonetik für all die Laien im Gericht: Was ist eine Sinuswelle, was ist eine Amplitude, wie lassen sich die magnetischen Aufzeichnungen auf einem Tonband graphisch sichtbar machen. Dann spielt sie die fünf Erpresseranrufe vor. Der erste, am 17. September 1981, dem Tag nach der Entführung, 17 Uhr: 18 Sekunden lang nichts außer einem starken Rauschen und einigen unidentifizierbaren Geräuschen. Anruf zwei, am nächsten Vormittag: 30 Sekunden lang Stille, nur unterbrochen von einem Geräusch, das wie ein Kratzen am Telefonhörer klingt. Die nächsten drei Anrufe, in kurzen Abständen hintereinander: Im Abstand von sechs Sekunden hört man je zweimal das Erkennungssignal des Radiosenders Bayern 3 - die Tonfolge C-F-F-A-A-C-A, die ersten sieben Töne des Liedes "So lang der Alte Peter", davor, dazwischen und danach mehrere Schaltgeräusche. Beim letzten Anruf werden die Geräusche überlagert von der verzweifelten Stimme der Mutter Ursula Herrmanns: "Lassen Sie doch das Signal, tun Sie doch mit mir sprechen, sagen Sie doch ja oder irgendwas, irgendwas von der Ursula!"

Dagmar Boss ist seit mehr als 20 Jahren in die Ermittlungen im Fall Ursula Herrmann eingebunden. In dieser Zeit habe sie die Erpresseranrufe bestimmt tausend Mal abgehört, sagt sie. Jedes einzelne Schaltgeräusch ist in ihrem akustischen Gedächtnis gespeichert. Jedes alte Tonbandgerät, das ihr in dieser Zeit in die Hände kam, habe man überprüft, ob es vielleicht ähnliche Geräusche produziere wie die in den Erpresseranrufen.

Als sie das Grundig TK248 aus dem Haus von Werner M. untersuchte, "da hatte ich", sagt sie, "doch ein sehr starkes Aha-Erlebnis". Das Geräusch der Starttaste und das der Pausetaste zeigten für sie deutliche Ähnlichkeiten mit Geräuschen des "Tätermaterials". Man kann das an der oszillographischen Darstellung der Geräusche sehen, aber aussagekräftiger sei für sie das, was sie höre, sagt Dagmar Boss. "Das Ohr ist das beste Analysegerät." Allerdings braucht man ein geschultes Ohr, um Unterschiede oder Übereinstimmungen zwischen den kurzen Krächzlauten zu identifizieren: Ist es ein rollendes "Krrrrrrk" oder eher ein reibendes "Krchk" oder eine sehr schnelle Abfolge von "Krkrkrkrk"? Nach mehrmaligem Hören würde man, wenn auch mit ungeschultem Ohr, wohl sagen: "Könnte schon sein." Aber wer weiß, ob es nicht noch viele andere Geräte gibt, deren Tasten ähnliche Geräusche verursachen?

Auffallend gedämpft

Doch die Hauptsache kommt erst. Es ist der sechste Ton in der B-3-Tonfolge, das hohe C, der längste und lauteste der sieben Töne. Jedenfalls im Original. Bei den Erpresseranrufen ist dieser Ton auffallend gedämpft, deutlich leiser als die anderen. In der oszillographischen Aufzeichnung sieht die Abfolge der sieben Töne aus wie ein Schaschlikspieß mit unterschiedlich dicken Fleischstücken, und genau das vorletzte Stück, das eigentlich das dickste sein sollte, sieht aus wie weitgehend abgeknabbert.

Wenn man nun ein originales B-3Signal mit dem TK 248 aus dem Besitz von Werner M. aufnimmt und dann über die eingebauten Lautsprecher wieder abspielt, dann sieht die graphische Darstellung derjenigen der Erpresseranrufe verblüffend ähnlich. Auch hier ist das hohe C deutlich abgemagert. Das liegt, hat Dagmar Boss herausgefunden, daran, dass das Tonsignal auf den beiden Tonspuren des Magnetbandes mit einer minimalen Zeitverzögerung von etwa 0,3 Millisekunden ankommt. Dadurch überlagern sich die Sinuswellen so, dass sie sich gerade beim höchsten Ton teilweise neutralisieren - die Amplitude der Welle wird kleiner, der Ton verliert an Lautstärke. Diese Zeitverzögerung wiederum wird verursacht durch eine leichte Fehlstellung des Aufnahmekopfes - ein individuelles Merkmal dieses einen Gerätes. "Auf diesem Hintergrund", fasst Dagmar Boss ihr Gutachten zusammen, "ist davon auszugehen, dass es sich bei dem untersuchten Tonbandgerät wahrscheinlich um eines der Geräte handelt, die für den Zusammenschnitt des Tatmaterials verwendet wurden."

Fragt sich nur: Was genau heißt "wahrscheinlich"? Das fragt auch der Vorsitzende Richter Wolfgang Rothermel. Das LKA, erläutert die Sachverständige, verwende eine Skala, die von "nicht entscheidbar" bis "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" reicht, mit den Zwischenstufen "möglich", "wahrscheinlich", "mit hoher Wahrscheinlichkeit" und "mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit". Aber in Prozenten könne man das nicht ausdrücken. "Das lehnt sich an den normalen Sprachgebrauch an", sagt Dagmar Boss. "Wahrscheinlich bedeutet wahrscheinlich."

Walter M.s Verteidiger werden sich nun bemühen, das in hohem Grad belastende Gutachten zu relativieren, etwa dadurch, dass man ähnliche Merkmale wie bei dem beschlagnahmten TK248 auch bei anderen Geräten nachweist. Ob das gelingt, ist fraglich. Am Ende dieses Tages jedenfalls liegt die Staatsanwaltschaft nach Punkten klar in Führung.

© SZ vom 21.10.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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