77 Jahre SZ:Mit Bauchgefühl und Datensätzen

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Die Interessen von Print- und Online-Lesern liegen erstaunlich eng beieinander. (Foto: Getty Images/iStock/Illustration: Dirk Schmidt)

Früher wussten Redaktionen nur begrenzt Bescheid über die Interessen ihrer Leser. Heute dagegen kann man sehr genau messen, welche Texte besonders intensiv gelesen werden - auch in der gedruckten Zeitung.

Von Ulrich Schäfer

Früher wurde Journalismus vor allem aus dem Bauch heraus gemacht. Der Journalist (und es waren damals in der Mehrzahl Männer) wusste angeblich ganz genau, was der Leser will. Der Bauch und das Gefühl waren oft die wichtigsten Maßstäbe beim Zeitungsmachen. Diesem Bauchgefühl folgend hob die Redaktion Geschichten ins Blatt und entschied, ob sie ganz weit vorne in der Zeitung platziert wurden, ganz weit oben oder auf einer hinteren Seite neben den Kleinanzeigen.

Heute wissen Redaktionen über die Leserinnen und Leser sehr viel mehr als früher. Denn der Journalismus in den Redaktionen schaut - mal mehr, mal weniger - auch auf Zahlen, die Auskunft darüber geben, welche Texte bei der Leserschaft besonders reüssieren. Bei der Süddeutschen Zeitung ist diese Leserschaft sehr heterogen, sie reicht vom 85-Jährigen, der die SZ schon seit über fünf Jahrzehnten abonniert hat, bis zum Teenager, der die Weltnachrichten am liebsten auf Instagram konsumiert; sie reicht von der Studentin, die die digitale SZ liest, über den kulturinteressierten Lehrer bis hin zur Managerin, die vor allem die Wirtschaft liest.

Darüber, was die Leserinnen und Leser mehr und was sie weniger interessiert, haben Redaktionen, und auch jene der Süddeutschen Zeitung, in den vergangenen beiden Jahrzehnten vor allem dank des Internets sehr viel gelernt. Denn das Netz erlaubt es, jeden Aufruf eines Artikels, jede Lektüre zu tracken, also zu messen. Man weiß: Woher kommen die Leser - über Google, Facebook, Twitter? Oder haben sie die Webseite direkt angesteuert? Man kann auch sehen: Wie lange verweilen sie im Durchschnitt in einem Artikel? Steigen sie nach wenigen Sätzen wieder aus (was am Thema liegen kann oder daran, wie der Text geschrieben ist) - oder bleiben sie bis zum Schluss dabei?

Schrille Bildergalerien sind von gestern

Von besonderem Interesse ist natürlich, welche Artikel dazu führen, dass Leser ein digitales Abonnement abschließen - und was sie dann besonders intensiv lesen. Denn wir machen die Süddeutsche Zeitung, gedruckt ebenso wie digital, natürlich vor allem für unsere Abonnenten. Ihnen muss das, was wir jeden Tag produzieren (eine dreistellige Zahl an Texten), auch gefallen, diese Abonnenten gilt es, auf Dauer zu halten. Und das gelingt eben nicht mit Katzenfotos und schrillen Bildergalerien, die in der Anfangsphase des Internets besonders beliebt waren, um schnelle Klicks zu generieren - sondern nur mit hochwertigem Journalismus, mit guten Texten, die echten Mehrwert bieten.

Denn das Bemerkenswerte ist: Der SZ-Abonnent und die SZ-Abonnentin im Netz nehmen sich oft viel Zeit. Besonders gern und besonders intensiv liest er oder sie die langen Texte, die großen Reportagen, die aufwändigen Recherchen, die hintergründigen, erklärenden Stücke. Es sind also nicht bloß die brandaktuellen Nachrichten, die den digitalen SZ-Leser interessieren und plötzlich die Besuche auf der Webseite nach oben schnellen lassen ( wie etwa am Tag, als die Queen starb). Nein, der digitale SZ-Abonnent sucht vor allem Texte, die in einer zunehmend komplexeren Welt Aufklärung und Orientierung bieten, gern auch lange Analysen und so verwundert es nicht, dass der Essay von Jürgen Habermas zum Ukraine-Krieg in diesem Jahr bisher der erfolgreichste Text auf SZ.de war.

SZ PlusExklusivJürgen Habermas zur Ukraine - 22 aus 22
:Krieg und Empörung

Schriller Ton, moralische Erpressung: Zum Meinungskampf zwischen ehemaligen Pazifisten, einer schockierten Öffentlichkeit und einem abwägenden Bundeskanzler nach dem Überfall auf die Ukraine.

Gastbeitrag von Jürgen Habermas

Angesichts der Flut von Zahlen, die das Internet liefert, haben sich Redaktionen aber auch immer stärker gefragt, was die Abonnentinnen und Abonnenten der gedruckten Zeitung wohl lesen. Sind es dieselben Geschichten? Oder interessieren sich die Print-Leser für andere Themen, andere Stoffe? Muss also die Süddeutsche Zeitung am Ende zwei völlig unterschiedliche Produkte anbieten: eines für die digitale Leserschaft, die die SZ vor allem auf dem Smartphone oder dem Tablet liest, und eines für die Freunde der gedruckten Zeitung, die sich im Café oder daheim auf dem Sofa mit Muße durch die raschelnden Seiten lesen?

Die SZ interessiert: Was lesen die Abonnenten? Wann? Und wie lange?

Ein Weg, dies herauszufinden, sind klassische Marktforschungen. Die SZ führt diese regelmäßig durch. Zwei Kolleginnen aus dem Verlag kümmern sich ausschließlich darum und befragen zum Beispiel regelmäßig ein Panel aus Leserinnen und Leser. Was gefällt ihnen, was nicht? Und wie kommen mögliche Änderungen an, über die die Redaktion nachdenkt? Das hilft uns dabei, die SZ sanft weiterzuentwickeln.

Die Ergebnisse sind aber längst nicht so detailliert und umfangreich wie die Daten aus dem Internet. Doch es gibt seit ein paar Jahren noch einen anderen Weg, um die Interessen der Print-Abonnenten und -Abonnentinnen sehr viel genauer herauszufinden, und den hat auch die Süddeutsche Zeitung vor gut einem Jahr gewählt: Über einen Zeitraum von acht Wochen haben mehr als 700 Leserinnen und Leser aus dem Großraum München, Bayern und ganz Deutschland jeden Tag markiert, was sie in der gedruckten Zeitung gelesen haben - und was nicht. Haben Sie über einen Artikel einfach hinweggeblättert? Haben Sie nur die Überschrift gelesen, vielleicht ein paar Absätze - oder war der Inhalt so interessant und der Text so gut, dass sie ihn bis um Ende gelesen haben?

All das haben die Leserinnen und Leser uns mitgeteilt, und zwar mithilfe eines kleinen Scanstifts, der die Größe eines Textmarkers hat und mit ihrem Mobiltelefon verbunden war. Mit diesem Stift in der Hand haben sie jeden Tag die Süddeutsche Zeitung gelesen und gescannt. Die Daten wurden in einem Dashboard, also einer grafisch aufbereiteten Tabelle auf dem Computer zusammengeführt. Die Redaktion konnte so nahezu in Echtzeit verfolgen, welche Texte und Seiten intensiv gelesen werden und welche weniger - und auch, zu welcher Tageszeit die SZ in die Hand genommen wird (oft noch am nächsten Tag).

Gefühlte Wahrheiten verschwinden

Die Methode nennt sich "Lesewert", entwickelt wurde sie von einem Unternehmen aus Dresden, den Mehrwertmachern. Die junge Firma ist eine Ausgründung der Sächsischen Zeitung und hat sich darauf spezialisiert, Redaktionen einen Teil jener Daten zu liefern, die sie ansonsten nur über ihre Webseiten erheben können. Die Mehrwertmacher liefern aber nicht bloß die Daten, ihre Coaches diskutieren auch mit den Redaktionen darüber, was sich aus den Zahlen erkennen lässt.

In diesen Coachings zeigte sich sehr schnell: Die Interessen von Print- und Online-Lesern liegen erstaunlich eng beieinander. Die allermeisten Geschichten und Themen, die auf SZ.de stark gelesen werden, stoßen bei den Print-Abonnenten auf Interesse - und umgekehrt. Nach und nach zerbröselte in den achten Wochen, in denen die Lesewert-Studie lief, die gefühlte Wahrheit, dass der Online-Leser etwas ganz anderes wolle als der Print-Leser, die Redaktion es hier also mit zwei verschiedenen Publika zu tun habe, für die es unterschiedliche Inhalte brauche.

Viel Zeit nehmen sich die Zeitungsleser dabei für die Titelseite, noch mehr aber für die Seite zwei, also das Thema des Tages, sowie die Seite Drei und die Meinungsseite. Das Panorama und das Wissen folgen auf den nächsten Plätzen - soweit es sich um Leser der Bundesausgabe handelt. Im Großraum München hat auch das Lokale, vor allem die Aufschlagseiten in der Stadt und den Landkreisen, eine hohe Bedeutung. Und in der gedruckten Zeitung gilt ähnlich wie im Internet: Die langen Stücke stoßen auf deutlich mehr Interesse als die kurzen Meldungen, die knappen Nachrichten - denn die haben viele Leser schon auf anderen Wegen erfahren: über Fernsehen, Radio, Internet oder die sozialen Medien.

Zahlen nutzen, ohne ihr Sklave zu werden

Deshalb kommt auch die Wochenendausgabe der SZ besonders gut an: Hier finden sich weniger Meldungen, es dominieren die längeren Stücke - aber das Wochenende ist bei vielen Menschen eben auch Lesezeit, und deshalb nehmen sich, für die Analysten der Mehrwertmacher war das erstaunlich, auch sehr viele Abonnenten eine halbe Stunde Zeit, um die drei Seiten der großen Buch-Zwei-Geschichte zu lesen. Frauen lesen dabei am Wochenende teils anders als Männer und interessieren sich mehr für Gesellschaft und Stil, Panorama und die Seite Drei, weniger für Wirtschaft und Sport.

Die Erkenntnisse, die die Daten liefern, helfen der SZ-Redaktion dabei, ihr Angebot Schritt für Schritt zu verbessern, und zwar möglichst ohne unsere Leser zu verschrecken. Denn die tägliche Lektüre einer Zeitung (ob nun gedruckt oder digital) hat auch sehr viel mit Gewöhnung und Gewohnheit zu tun. Die Leser wollen sich ja nicht ständig neu orientieren, um sich in der Zeitung zurechtzufinden.

Die Zahlen sind aber längst nicht alles, wenn die Redaktion entscheidet, worüber sie berichtet. Sie helfen immer wieder bei der Entscheidungsfindung, aber natürlich geht es auch darum, ob ein Thema politisch, gesellschaftlich oder wirtschaftlich relevant ist. In einem Zehn-Punkte-Papier, in dem die Redaktion vor zweieinhalb Jahren ihr journalistisches Selbstverständnis formuliert hat, wurde dies so formuliert: "Die Redaktion versteht Zahlen und Daten als Chance und nutzt sie, ohne sich zu deren Sklaven zu machen." Das richtige journalistische Gespür ist also nach wie vor wichtig, und so geht es heute, wenn über die Inhalte der Zeitung und der Webseite entschieden wird, am Ende um beides: um den Blick auf die Zahlen - und um das richtige Bauchgefühl.

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