Sprachlabor:Nicht(s) weniger

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(Foto: Luis Murschetz (Illustration))

Was geschrieben und was gemeint ist - und wie irrational gut es oft dennoch mit dem Verständnis klappt.

Von Hermann Unterstöger

WENN AUF IRGENDWAS Verlass ist, dann auf die falsche Verwendung von nichts weniger. Leser F. fand den Fehler in dem Satz, man habe " nichts weniger als die Renaissance der Bahnhöfe" versprochen, eine Aussage, die bei buchstabengetreuem Lesen nicht weniger bedeutet, als dass man alles Mögliche versprochen habe, nur nicht die Renaissance der Bahnhöfe. Der Fehler ist keine Katastrophe, da er fast immer im gemeinten richtigen Sinn verstanden wird. Um ein uraltes Beispiel dafür anzuführen, so heißt es in Johann Michael Sailers "Heiligthum der Menschheit" von 1810, die Lehre Christi biete uns "nichts weniger an als Gott selber". Das ist grammatisch und theologisch falsch, aber Sailers frommes Publikum wird es schon richtig verstanden haben.

WAS MAN NICHT HAT, kann man nicht verlieren. Im Hinblick auf diese Lebensweisheit hält Leser Dr. J. den Titel "Kinder verlieren Lesekompetenz" für krass verfehlt. Gemeint war, dass es viele Kinder nicht mehr zur gewünschten Lesekompetenz bringen, was in der Bildungsbilanz ja in der Tat als Verlust zu Buche schlägt. Insofern ist die - notwendigerweise verkürzte und verdichtete - Überschrift gerade noch verzeihlich.

WOHIN VERKÜRZUNG sonst noch führen kann, zeigt der folgende, von unserem Leser R. eingesandte Satz: "Im Zweiten Weltkrieg wurde die Paulskirche zerstört und mit Spenden aus ganz Deutschland wieder aufgebaut." Was gemeint war, ist auch hier klar, doch könnten Spötter leicht in Versuchung geraten zu sagen, dass der Krieg ersichtlich auch seine guten Seiten gehabt habe.

UND WAS WAR HIER GEMEINT? Ein Angeklagter hatte "die Vorwürfe der Bestechlichkeit und der Steuerhinterziehung gestanden ..., den Vorwurf der Untreue aber bestritten". Gemeint war, dass der Mann Bestechlichkeit und Steuerhinterziehung gestanden, Untreue jedoch bestritten hatte. Die Klärung ist unserem Leser R. zu danken, der daran erinnert, dass man nur gestehen beziehungsweise bestreiten könne, was man verbrochen habe. Vorwürfe gehörten nicht dazu.

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