Leserbriefe:Die Kita-Misere als Generalproblem

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Staatsgarantie schützt vor Mangel nicht: Kindertagesstätten in Deutschland. (Foto: Petra Schneider/Imago)

Der Mangel an Kindergartenplätzen hat massive Folgen. Die Leserdiskussion dazu wirft sehr fundamentale politische Fragen auf.

" Macht mal Platz" vom 5./6. August:

Entlastungsmodell

Auf drei Seiten haben Sie eindringlich und beschämend über die jetzige und künftige Situation in den Kitas und Familien berichtet. Mein Vorschlag dazu: Alle Mütter und Väter bekommen bis zur Einschulung ihrer Kinder - gesetzlich festgeschrieben - das Recht, lediglich 30 Stunden zu arbeiten bei gleichbleibendem Lohn (bei hohem Einkommen etwas geringerem Lohn). Dafür fallen weniger Ausgaben für das notwendige Kita-Personal an. Die darüber hinaus entstehenden Kosten müssen sich Arbeitgeber und Gesellschaft teilen. Denn: Kinder sind ein wesentlicher Teil unserer Gesellschaft. Nicht nur die Eltern, sondern wir alle sind für sie verantwortlich. Die Kleinen bekämen mehr Fürsorge, die Familien mehr gemeinsame Zeit. Und sogar die Arbeit würde vermutlich davon profitieren, weil der Umgang mit den eigenen Kindern mehr Wärme, mehr Flexibilität und Gelassenheit in die Berufswelt bringen könnte.

Dr. Claudia Trübsbach, Prien am Chiemsee

Eigeninitiative der Eltern

Dem sehr gründlichen und kenntnisreichen Beitrag fehlt die neunte These. Im vergangenen Jahrhundert gab es eine breite Kinderladen-Bewegung. Eltern taten sich zusammen und gründeten eine private Betreuungsgruppe. Abwechselnd tageweise waren die Eltern für die Kinder zuständig. Von den eingesparten Kindergartenbeiträgen ließen sich nicht nur Spielzeug, zusätzliche Kleidung oder auch ein Ausflug bezahlen, sondern auch ein junger Mensch, der Lust hatte, die Eltern zu unterstützen und diesen möglichen Berufsweg zu probieren. Besonders gut organisierte Kinderläden schafften es sogar, kommunale Zuschüsse zu erhalten. Diese vor fünfzig Jahren gängige Vorgehensweise hat Eltern und Kindern gutgetan. Den Tenor des Artikels, der Staat möge bei der Kinderbetreuung endlich leisten, verstehen die Leser und Leserinnen durchaus - was spricht aber gegen Eigeninitiative der Eltern?

Jörg Höhne, Nidderau

Vollkasko-Mentalität

Die Kita soll's richten. Die Wunderwaffe gegen Arbeitsplatzmangel, Benachteiligung der Kinder aus bildungsfernen Familien, Überalterung und für Emanzipation der Frauen, für höhere Geburtenquote, für Rentengerechtigkeit. Das gesetzlich verbürgte Recht auf einen Kita-Platz sollte alle Probleme lösen. Funktionierte nicht. Wie auch? Es gibt schließlich neben der Schulpflicht keine Kita- und Hort-Pflicht. Der Wunderwaffe fehlte es von Anfang an an Munition.

In den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts waren auch sehr viele Frauen ganztägig berufstätig. Nicht in Managementetagen, sondern an den Fließbändern des Wirtschaftswunders. Die Unternehmen boten Betriebskindergärten an. In derselben Wochenendausgabe der SZ wundert sich Christian Stückl, der Intendant des Volkstheaters in München, darüber, dass nicht einmal die Stadt München in ihren städtischen Betrieben Betriebskindergärten anbietet. Das Volkstheater plant nun in einem Pilotprojekt einen solchen für das Theater.

Wann ist es eigentlich passiert, dass alle Teile unserer Gesellschaft bei auftretenden Problemen den Staat in Anspruch und Verantwortung nehmen? Als wäre das System der Demokratie so eine Art Versicherungsanstalt für ein Leben in Sorglosigkeit.

Traudel Keller, München

Neudefinition nötig

Der Artikel "Macht mal Platz" zeigt deutlich auf, dass unsere derzeitige Vorstellung von Kita einem überholten Familienbild aus der Epoche der Industriegesellschaft entspringt. Einer Epoche, in der strikt zwischen Familie und Beruf getrennt wurde, in der es die lukrativen und Unabhängigkeit und Emanzipation versprechenden Jobs nur in der Erwerbswirtschaft gab und in der für die outgesourcte familiennahe Care-Arbeit stets ausreichend schlecht bezahltes Personal zur Verfügung stand. Die Kernfamilie als Ergebnis der industriellen Revolution und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen verlangte nach einer Kinderbetreuung, die sowohl den pädagogischen, emanzipatorischen als auch den wirtschaftlichen Notwendigkeiten gerecht wurde. Die Kita schien lange Zeit die Ideallösung für alle diese Herausforderungen zu sein. Doch spätestens seit den Achtzigerjahren und dem Wandel hin zu einer postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft geriet das Modell in Schieflage. Die gestiegenen Qualitätsansprüche, die Bereitstellung des erforderlichen Fachpersonals und die Finanzierbarkeit konnten kaum mehr flächendeckend im geforderten Umfang gewährleistet werden. Jetzt befinden wir uns mitten in einer neuen Revolution, die durch Globalisierung, Digitalisierung und Roboterisierung das Potenzial hat, auch die Institution Familie wieder völlig neu auszurichten.

Auch wenn das Zielbild noch sehr nebulös ist, so darf doch bezweifelt werden, dass vor diesem Hintergrund der zweidimensionale Anspruch der Kita, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sicherzustellen, so noch zeitgemäß ist. Vielmehr gilt es, die gesellschaftliche Funktion und Bedeutung von Care- und Erwerbsarbeit neu auszutarieren und sich an den dynamisch geänderten Bedürfnissen junger Familien zu orientieren. Die Diskussionen, die im Zusammenhang mit dem bedingungslosen Grundeinkommen geführt werden, zeigen dabei in die richtige Richtung. Die dort skizzierten Lösungsansätze sind geeignet, die mit der Industrialisierung entstandene Kluft zwischen Beruf und Familie zukünftig zu reduzieren und der Kita dabei eine neue Rolle zuzuweisen, der sie auch gerecht werden kann.

Philipp Reil, Grafrath

Falsche Steueranreize

Im ganzen Artikel ist kaum von den Vätern die Rede. Dabei sind sie Teil der Lösung der Situation. Es muss eine andere Aufteilung der Care-Arbeit geben, sie darf nicht allein an den Frauen hängen bleiben. Mütter und Väter sollten sich die Elternzeit teilen, dann müsste keiner zu lange aus dem Beruf aussteigen. Danach sollte über Teilzeit langsam wieder in Vollzeit eingestiegen werden. Die Teilzeit müsste für eine bestimmte Zeit vom Staat subventioniert werden. Das wäre kein Problem, wenn die über 20 Milliarden pro Jahr, die das Ehegattensplitting kostet, dafür verwendet würden. Langfristig sollte eine Wochenarbeitszeit für beide von 32 Stunden angestrebt werden. Bis das Ehegattensplitting endgültig abgeschafft ist, sollte die Steuerentlastung ganz oder teilweise in die Altersversorgung der Frau investiert werden, um die entstandene Rentenlücke auszugleichen. Das Ehegattensplitting gibt es meines Wissens außer in Polen nur noch in Deutschland. Es ist ein Relikt aus den Fünfzigerjahren, als Frauen meist nicht berufstätig waren, also versorgt werden mussten. Heute haben fast alle Frauen eine Berufsausbildung oder gar ein Hochschulstudium, können also selbst für sich sorgen. Und da wird immer noch die Ehe eines Bestverdieners mit einer nicht erwerbstätigen Frau durch eine hohe Steuerentlastung belohnt, die bis zu 15 000 Euro pro Jahr betragen kann. In etwa 40 Prozent der vom Ehegattensplitting begünstigten Ehen gibt es keine Kinder - oder keine mehr - zu versorgen. Skandinavien ist vorbildlich, dort wurde das Ehegattensplitting schon vor über 50 Jahren abgeschafft. Das viele Geld, das dadurch eingespart werden konnte, wurde in qualifizierte Kinderbetreuung und differenzierte Pflegelösungen für alte Menschen investiert. Deshalb sind wieder viel mehr Frauen erwerbstätig und damit finanziell unabhängig.

Helma Sick, München

Chancengleichheit herstellen

Selten habe ich mich so über einen Artikel geärgert. Als Chirurgin in einer Führungsposition (mit zwei inzwischen erwachsenen Kindern) finde ich die Forderung, dass wir Frauen Geld dafür bezahlen sollen, dass sie länger zu Hause bleiben sollen, um kleine Kinder zu hüten, ungeheuerlich. Ärztinnen, die längere Zeit aus dem Beruf ausscheiden, bleiben in ihren Kenntnissen und Fähigkeiten hinter ihren männlichen Kollegen zurück. Schon Schwangerschaft und ein Jahr Erziehungszeit summieren sich auf mindestens 18 Monate, bei zwei Kindern dann schon 36 Monate. Nach zwei Kindern ist dann die Ärztin weit hinter den männlichen Kollegen zurückgeblieben, wenn sie danach Teilzeit arbeitet, noch mehr. Ich gehe davon aus, dass das in anderen Branchen nicht anders ist.

Wenn die Gesellschaft wünscht, dass die Kinder wie früher von der Mutter daheim betreut werden, dann sollten wir doch gleich Frauen vom Studium ausschließen. Oder wir schaffen es endlich, dass die Kinderbetreuung von einem Paar gemeinsam geschultert wird: Jeder bleibt sechs Monate zu Hause, dann wird das Kind zwölf Monate daheim von beiden (!) Eltern betreut. Danach arbeiten beide Partner 80 Prozent. Würde auch gehen, wenn das alle wollen würden. Die Herdprämie ist da sicher nicht der richtige Ansatz.

Prof. Dr. med. Ursula Peschers, München

Familienarbeit anerkennen

Seit der Einführung des Modells der früheren DDR zur Kleinkinder-Betreuung vor nunmehr zehn Jahren fühle ich mich als "Anwalt der Kinder" verpflichtet, auf diese Fehlentwicklung aufmerksam zu machen, in die vom Staat viel Steuergeld mit nicht einlösbaren Versprechungen investiert wurde - überwiegend zum Schaden der kindlichen Grundbedürfnisse und zugunsten der Wirtschaft! Allen im Artikel angesprochenen Thesen kann ich nur voll zustimmen und darauf hoffen, dass zum Kindeswohl daraus auch Konsequenzen folgen: Die gesellschaftliche und finanzielle Anerkennung der Familienarbeit, die noch immer überwiegend von Müttern mit der Doppelbelastung von Beruf und Kinder- ( und Alten-)betreuung geleistet wird, nicht als "Herdprämie" zu verstehen, sondern als wesentlichen Beitrag zu einem humanitären Menschenbild, in dem das Kindeswohl auch für die Zukunft eine wesentliche Rolle spielt.

Gisela Marlier-Heil, München

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