Liberale:"Wie viel FDP kann Deutschland noch ertragen?"

Lesezeit: 6 min

Finanzminister und FDP-Vorsitzender Christian Lindner. (Foto: IMAGO/Janine Schmitz/photothek.d/IMAGO/photothek)

SZ-Leser und -Leserinnen sind entsetzt über das Imponiergehabe der drei Männer an der Spitze der Partei und deren Rückwärtsgewandtheit.

"Im Nahkampf" vom 29. August, "Wollen wir alles umsonst?" vom 17. August, "Lindners Welt" vom 12. August und "Wahre Freiheit" vom 30./31. Juli:

Von gestern

Christian Lindner unterstellt der Gesellschaft Gratismentalität. Dabei waren Lindner und seine Gattin vor Kurzem das berühmteste Paar, das Gratismentalität für sich, sprich ihre kirchliche Trauung, beanspruchte, obwohl beide aus der Kirche ausgetreten waren. Die anderen populistischen und grenzwertigen Aussagen sprechen Bände über die gestrige Wertevorstellung der FDP. Mangel an qualifiziertem Personal gibt's nicht nur in der Wirtschaft. Diese Partei steht in der Koalition für Rückschritt und gesellschaftliche Spaltung.

Der Koalitionsvertag wurde in einer Zeit geschaffen, in der die Welt eine andere war. Die FDP ist nicht willig oder nicht fähig, diesen Vertrag an die neue, gefährliche Lage in Europa und die damit einhergehenden Herausforderungen anzupassen. Entsetzlich, in einer der größten Krisen seit dem Zweiten Weltkrieg. Und: Wer jetzt meint, mit Populismus punkten zu müssen, verhöhnt den Ernst der Lage und die Sorgen der Bevölkerung.

Hans-Heinrich Singer, Wörth

Privat-Lobbyist

Als FDP-Mitglied möchte ich noch einige Aspekte hinzufügen: Der "Tankrabatt" von Christian Lindner ist nicht nur ökonomisch und gesellschaftlich kritisch zu hinterfragen. Die Aktion ignorierte neben Expertenmeinungen die großen aktuellen Herausforderungen: den massiven menschengemachten Klimawandel durch Anreicherung von Treibhausgasen in der Atmosphäre, sowie ein neo-stalinistisches Russland, das seine Propaganda und den Angriffskrieg mit fossilen Energieträgern finanziert. Unwürdig war der Versuch, sich angesichts des sich abzeichnenden Desasters hinter Kartellamt und Wirtschaftsminister zu verstecken, statt zu eigenen Fehlern zu stehen.

Noch schlimmer ist die (gnädig verschwiegene) "Verbrenner-Affäre" um das Verwässern einer klaren industriepolitischen Vorgabe zum klimapolitisch sinnvollen Auslaufen des Verbrennungsmotors. Zum einen ergibt sich der Eindruck, Christian Lindner habe seit Monaten als Privat-Lobbyist agiert. Zum anderen wurde von der Bundesgeschäftsstelle - vermutlich in Unkenntnis der Hintergründe - eine apologetische "Argumentationshilfe" für Mitglieder der Freien Demokraten erstellt, durch die sie nichtsahnend zu Unterstützern eines inakzeptablen Falls von Lobbyismus würden, falls sich der Verdacht bestätigt.

Angesichts dieser Vorgänge um Christian Lindner, die nicht zuletzt auf eine gewisse Wissenschaftsferne und ideologische Erstarrung hindeuten, fragt sich, ob der Bundesvorsitzende noch die Zukunft der FDP repräsentiert oder nicht eher deren Vergangenheit.

Sebastian Raupach, Braunschweig

Alle leiden mit

Lindner prangert eine "Gratismentalität" an. Ja, die gibt es, aber anders, als er meint. Er gehört einer Partei an, die bekannt dafür ist, möglichst den Markt alles richten zu lassen. Nun, man kann schon SUVs kaufen, ungeniert in den Urlaub fliegen, shoppen und wegwerfen in einer Tour, Autobahnen und Gewerbegebiete in die Landschaft bauen, Investoren in den Großstädten auch noch den letzten Garten bis knapp an die Kante bebauen lassen, die Intensivlandwirtschaft mit Stickstoff düngen, Pestizide und Herbizide spritzen lassen und so weiter. Aber "irgendwann muss alles bezahlt werden". Leider bekommt immer jemand anderes als die Verursacher die Rechnung präsentiert: Menschen, deren Heimat unbewohnbar wird; Tierarten, die mit dem Leben bezahlen, weil sie ausgerottet werden. Oder es läuft nach dem beliebten Rezept: Gewinne privatisieren, Verluste verstaatlichen, also der Allgemeinheit aufbürden. Die Rücksichts- und Einsichtslosen richten den Schlamassel an; an den Folgen aber "dürfen" alle solidarisch mitleiden.

Susanne Tillich, München

À la Trump

Jetzt reicht es mir mit Herrn Kubicki! Beim politischen Sommerabend im "Loreleyblick Maria Ruh" hat er wieder mal seinen unanständigen, gewissenlosen Charakter offenbart - und die FDP-Zuhörer applaudierten lustig und stimmten ihm noch zu. Einer, der ab 11 Uhr Alkohol trinkt, der sich über Politiker, die ihren Job mit Herzblut und Ernsthaftigkeit ausfüllen, lustig macht, der Zoten zum Besten gibt und sich offenbar Trumps ekelhafte Schamlosigkeit zum Vorbild nimmt, hat in der Politik, geschweige denn als stellvertretender Bundestagspräsident, nichts zu suchen. Er soll mit seinem Trump'schen Gehabe in seiner Altherren-Stammtischrunde bleiben.

Eva Strothmann, Münster

Selbstverliebte Männlichkeit

Allein die Fotos auf der Seite zeigen, wie rückwärtsgewandt die FDP aktuell aufgestellt ist und sich nach außen präsentiert: Drei ältere Herren. Und dann dieses toxische, männliche Gebaren von Wolfgang Kubicki, über andere (Gesundheitsminister Lauterbach) herzuziehen, und Wein ab 11 Uhr? Wie witzig... Da waren ihm die Lacher des höchstwahrscheinlich sehr männlichen, älteren Publikums sicher.

Die Werte, für die die Partei steht, sind für unsere Demokratie wichtig. Der Liberalismus ist wichtig, um die Balance zu halten mit den konservativen und sozialen Werten der anderen Parteien. Aber könnte die Partei mal in der heutigen Zeit landen? Die altbackene, selbstverliebte Männlichkeit ist daneben und macht für mich die FDP derzeit unwählbar.

Christine Wenner, Osnabrück

Freiheit ist wichtig

Ich kann nachvollziehen, dass Carolin Emcke bei der FDP ein konkretes Freiheitskonzept vermisst. Das Fehlen an Konkretem ließe sich aber zu vielen Themen auch bei anderen politischen Parteien beanstanden: Wer (zu) konkret wird, macht sich angreifbar. Wie die Gegenwart zeigt, entwickelt sich auch die Wirklichkeit leider oft an den schönsten Plänen vorbei.

Soweit verstanden, geht es Emcke darum, aus Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen auf etwas private Freiheit zu verzichten. Der moralische Mahnruf mit oder ohne Bezug auf das Bundesverfassungsgericht erzeugt gewollt oder ungewollt schlechtes Gewissen mit "Büßersyndrom": Ich muss mit Freiheitsverzicht büßen und verlasse mich voll auf die "Experten", die bestimmen, was für mich richtig oder falsch ist. Ist die Klimakatastrophe bereits eingetreten? Wenn ja, brauchen wir nichts mehr zu unternehmen, da wir noch ziemlich gut leben. Mir wäre es lieber, wir schützen uns (zum Beispiel vor Kriegen, Überschuldung) und verhalten uns unserer Umwelt gegenüber bescheidener und mit mehr Demut.

Der Wunsch nach einem "Handeln in längeren Zeitachsen" ist zu begrüßen. Wir lernen aber, dass die Versorgungsketten für tägliche Produkte lange brauchen, bis sie nach einer Störung wieder funktionieren. Und dass kritische Infrastrukturen, wie Energieversorgung, Verkehr oder Landwirtschaftsflächen, Redundanz beziehungsweise Puffer benötigen. Das zu verwirklichen, braucht viel Zeit und Durchhaltevermögen (typisches Beispiel: Der Bau von 10 000 Kilometer Eisenbahntrassen wird zehn bis 15 Jahre dauern, genauso die Entwicklung der Logistik für die Speicherung und den Transport eines Energieträgers).

Insofern verhält sich die FDP mit dem Verzicht auf ein Tempolimit und der Beibehaltung der Schuldenbremse langfristig. Mit der zunehmenden Verbreitung der Elektrofahrzeuge erledigt sich das Tempolimit von allein. Auch die Schuldenbremse hat eine Langzeitwirkung: Sie ermöglicht das wohlüberlegte, dosierte, nachhaltige Geldausgeben, ein unabdingbares Kriterium neben der technologischen Entwicklung. Letztere ist vielversprechend, da wichtige Technologien die reine Forschung verlassen und die Wirtschaft erreicht haben; davon können wir in zwanzig Jahren leben.

Für die zahlreichen Herausforderungen brauchen wir viele aktive Beiträge und Initiativen aus der ganzen Bevölkerung. Das setzt aber für das Volk mehr "kleine" Freiheiten fern von der auf manchen Gebieten gefühlten täglichen Gängelung voraus. Das wäre die "wahre Freiheit".

Dipl.-Ing. Bernard Formica, Höhenkirchen-Siegertsbrunn

Angst vor sozialer Gerechtigkeit

Dass die FDP ein Problem mit sozialer Gerechtigkeit hat, ist bekannt. Geht es nach ihr, so mangelt es einem Obdachlosen an Eigenverantwortung. Das Verständnis für soziale Komplexität ist nicht Sache der FDP, einfacher Liberalismus, und sei es nach der Art von Raubtieren, ist da eingängiger. Leider beschränkt sich die soziale Logik der FDP darauf, den Reichen genügend aufzutischen, damit für die Armen Brosamen abfallen. Es wäre ein starkes soziales Zeichen, wenn zum Beispiel nur bei Geringverdienern auf die kalte Progression verzichtet würde. Ein paar Hundert Euro Mehrabgabe sind für Gutverdiener eh nur Peanuts.

Es ist geradezu lächerlich, peinlich und traurig, mit welcher Verve von Lindner eine Übergewinnsteuer abgelehnt wird, könnte doch damit neben sozialer Verantwortung sogar die Schuldenbremse gestärkt werden. England, Italien und Spanien haben sich dazu durchgerungen. Wie kann man nur so viel Angst vor sozialer Gerechtigkeit haben? Die Psychologie, die dahintersteckt, ist so alt wie aktuell: Je mehr ein Reicher besitzt, desto größer ist seine Angst, etwas zu verlieren und von Schmarotzern (Obdachlosen? Harz-IV-Empfängern?) ausgesaugt zu werden. Einfach nur traurig!

Christian Delanoff, München

Erschreckende Unfähigkeit

Die abstruse, unsolidarische und verantwortungslose Haltung der FDP zur "Freiheit" besteht im Grunde nur aus rücksichtslosem Egoismus. Die Unfähigkeit, sich von Dogmen (Tempolimit) zu lösen, zeigt eine erschreckende Unfähigkeit, die Realität zu erkennen und politische Handlungen in Krisenzeiten weniger an Dogmen und mehr an Notwendigkeiten auszurichten. Wie viel FDP kann Deutschland in Krisenzeiten noch ertragen?

Anette Nierhoff, Castrop-Rauxel

Hinweis

Leserbriefe sind in keinem Fall Meinungsäußerungen der Redaktion, sie dürfen gekürzt und in allen Ausgaben und Kanälen der Süddeutschen Zeitung , gedruckt wie digital, veröffentlicht werden, stets unter Angabe von Vor- und Nachname und dem Wohnort. Schreiben Sie Ihre Beiträge unter Bezugnahme auf die jeweiligen SZ-Artikel an forum@sz.de . Bitte geben Sie für Rückfragen Ihre Adresse und Telefonnummer an. Postalisch erreichen Sie uns unter Süddeutsche Zeitung, Forum & Leserdialog, Hultschiner Str. 8, 81677 München, per Fax unter 089/2183-8530.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: