Glosse "In der Gewalt der Brüll-Babys" vom 6. November:
Der SZ-Autor schreibt, dass ihm, obwohl er nach getaner Büro-Arbeit nur auf dem Nachhauseweg ist, in der "sowieso chaotischen, ja tödlichen Münchener Trambahnlinie 19", Gewalt angetan wird - und zwar durch drei kleine Kinder! Diesen Artikel kann und darf man als Kinder- und Jugendarzt nicht so stehen und unkommentiert lassen.
Der Artikel beschreibt auf eine beschämende, ja abstoßende Art ein Phänomen, das leider weit verbreitet ist: Kinder werden als Zumutung empfunden. Der Autor geht aber sogar noch weiter. In seinen Augen sind Kinder sogar Gewalttäter! Weil sie brüllen. Und sie rotten sich auch noch zusammen, um dann eine Gewalttat zu begehen ("hinter der Fahrerkabine, wo ihre (Kinder-)Wagen stehen"). Der Anführer ist dabei gerade einmal ein Jahr alt.
In welcher Welt lebt der Autor, dass er derart rassistisch anmutend ("resignierter Singsang aus Ex-Jugoslawien", "eine Sprache aus dem arabischen Kulturkreis") und diskriminierend über Mütter und ihre Kinder herziehen muss? Kinder schreien nun mal, und nicht immer gelingt es, sie zu beruhigen, das kann schon mal ein paar Trambahn-Stationen dauern. Glauben Sie wirklich, dass durch eine "harte Anweisung" ein schreiendes Kind sofort zu beruhigen wäre?
Schreien kann viele Gründe haben, zum Beispiel das Äußern von Unmut, Hunger, Schlafmangel, Zahnungsschwierigkeiten, negative Schwingungen aus dem Umfeld und Vieles mehr. Das kann auch mal nerven, das ist klar. Eltern und Kinderärzte können Bücher darüber schreiben. Aber muss man deswegen derart abfällig über sie herziehen?
Ein Vorschlag fürs nächste Mal, wenn der Autor wieder mit der Todestram 19 unterwegs ist: Entspannen Sie sich, jede Trambahn hat eine Endhaltestelle und jedes Kind hört irgendwann auf zu schreien. Vielleicht stecken Sie sich schon in der Tram Kopfhörer in die Ohren und hören schöne Musik.
Sie können den Verlauf aber sogar günstig beeinflussen - nicht die Fahrt der Trambahn, aber die Beruhigung der Kinder, ach was rede ich, die Beruhigung aller. Vollziehen Sie eine Kehrtwende. Sie können doch etwas ändern in Ihrem anstrengenden Leben! Nehmen Sie das nächste mal drei (kleine oder große) Teddybären mit in die Tram und spielen Sie den Kindern etwas vor. Sie können natürlich auch auf eine ganz andere Art positiv in Kontakt treten. Sie werden ganz sicher die Aufmerksamkeit auf sich ziehen (das wollen Sie doch) und den Kindern und deren Müttern das ein oder andere Lächeln ins Gesicht zaubern. Und schon ist's vorbei mit dem "Gebrüll" - und Sie haben etwas Gutes getan. Und Sie haben wieder etwas zum Schreiben.
Falls Sie keine Lust auf so etwas haben oder Ihre Performance nicht gut genug ist, dann gehen Sie in Ihren Keller oder in einen Wald und brüllen Sie mal so richtig drauf los. Sie werden sehen: Das tut gut!
Und falls sich jemand gestört fühlt? Vielleicht bekommen Sie ja dann einen süßen Teddybären geschenkt...
Dr. med. Ludwig Schmid, München
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