Italien ist nicht nur Goethes "Land, wo die Zitronen blühn, im dunkeln Laub die Goldorangen glühn" - sondern auch das Land, in dem jährlich ungefähr 700 000 Tonnen säurereiche Schalen ausgepresster Zitrusfrüchte wie Sondermüll entsorgt werden müssen. Das brachte Adriana Santanocito 2011 auf die Idee, mit den Schalen etwas Produktives anzufangen, um die Saftindustrie zu entlasten, die Umwelt zu schonen und ein eigenes Geschäftsmodell zu entwickeln. Ihr Einfall: edle Stoffe aus Obstschalen.
Die Sizilianerin aus Catania studierte damals Modedesign in Mailand. Sie erzählte ihrer Freundin Enrica Arena, ebenfalls aus Sizilien und Studentin in Mailand, von ihrer Idee, und die ließ sich schnell davon begeistern. Immerhin ging es darum, zwei exzellente italienische Produkte miteinander zu verbinden: Mode und Orangen.
2014 gründeten die beiden jungen Frauen in Catania ihr Unternehmen Orange Fiber. In der von Zitrusgärten umgebenen Stadt am Fuß des gerade Rauch und Feuer speienden Ätna begannen sie damit zu experimentieren, Zellulose aus dem "Pastazzo", den Überresten der Saftgewinnung, zu entnehmen und zu einem an Seide erinnernden Garn spinnen zu lassen. Daraus entstanden ihre ersten Stoffe. Und was ein bisschen nach Märchen klingt - etwa nach Stroh, das zu Gold gesponnen wird - bestand den Realitätstest.
"Orange Fiber gibt es nun schon seit sieben Jahren", sagt Enrica Arena, die die Firma inzwischen alleine führt. Und fügt augenzwinkernd hinzu: "So lange hat noch keine italienische Regierung überlebt."
Zunächst entwickelte sich alles prächtig. Die beiden Gründerinnen gewannen in Italien wie im Ausland etliche Preise und überzeugten das Luxusgüterunternehmen Ferragamo, eine "Orange Fiber Collection" herauszubringen, die die mediterrane Kreativität feiern und der Modeindustrie einen ökologischen Touch verleihen sollte. Blusen, Hosen und Tücher, bedruckt mit floralen Motiven, die der Designer Mario Trimarchi entwarf.
Bald darauf folgte der Bekleidungskonzern H&M, der ebenfalls mit einer Kollektion von Orange Fiber Sinn für Nachhaltigkeit zeigen wollte. Zudem nahm Orange Fiber 650 000 Euro durch Crowdfunding ein. Da sich der Stoff aus Orangen gut mit anderen Stoffen mixen, bedrucken und restlos biologisch abbauen lässt, stießen die Sizilianerinnen auf viel Interesse. Sie kauften Maschinen und wollten nun rasch die Produktion ausweiten, um den Modemarkt verlässlich mit größeren Mengen beliefern zu können.
"Doch dann kam Covid-19", sagt Enrica Arena. "Das Virus hat uns zwar nicht gestoppt, aber gebremst. Es hat auch die Modeindustrie stark getroffen." So kann Orange Fiber derzeit nur 15 Tonnen Zellulose im Jahr herstellen. Nun hofft die Sizilianerin auf den Herbst, wenn Corona vielleicht halbwegs überwunden sein wird. "Dann können wir endlich expandieren. Und an unserem Sitz in Catania einen Showroom eröffnen." Einen positiven Begleiteffekt habe Corona immerhin: "Wir sind als Konsumenten bewusster geworden, überlegen uns besser, was und wie viel wir kaufen." Da Orange Fiber Abfall verwerte, schone es Umwelt und Klima. Und das gewinne auch in der Welt der Mode an Bedeutung.
Langfristig möchte Orange Fiber so viel und so günstig produzieren, dass man über Luxuslabels und Sonder-Kollektionen hinaus ein breites Publikum beliefern kann. Rohstoff - die Schalen von Orangen, Zitronen oder Mandarinen - ist gerade in Sizilien reichlich vorhanden. Und die Stoffe des jungen Unternehmens liegen nicht nur wie Seide auf der Haut, sondern sollen diese auch noch pflegen: durch winzige Kapseln mit ätherischen Zitrusölen, die beim Tragen freigesetzt werden.