Nichts ist für die Ewigkeit. Nichts? Naja, fast nichts. Als das Grundgesetz am 23. Mai 1949 in Kraft trat, wurden nur einige wenige Prinzipien dieser neuen Verfassung in Stein gemeißelt. Die sogenannte Ewigkeitsklausel, der Artikel 79 Absatz 3, beschrieb, was niemals geändert werden dürfe. "Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig." Dies also sind die Tabus: eine Gleichschaltung zu einem Zentralstaat wie 1933; das Schleifen der Menschenwürde-Garantie; der Abbau von Demokratie- oder Rechtsstaatsprinzip.
Alles andere darf geändert werden. Und das hat die Politik in den 73 Jahren seither auch vielfach erprobt. Im Laufe der Zeit ist schon ungefähr jeder zweite Artikel des Grundgesetzes verändert worden, einige davon auch mehrmals. Mehr als 60 Änderungsgesetze haben sich auf mehr als 200 Artikel ausgewirkt. Einen der ersten größeren Einschnitte trieb bereits 1956 die von Konrad Adenauer geführte Koalition aus Union, FDP, Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) und rechter DP voran: die Aufstellung der Bundeswehr. Dafür wurden sieben Artikel geändert und neun neu eingefügt.
Tag des Grundgesetzes:Mal Motor, mal Bremser
Gleichberechtigung, Abtreibung, Pressefreiheit: Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner langen Geschichte zahlreiche wegweisende Urteile getroffen. Wie sie bis heute in die Gesellschaft hineinwirken.
1968 folgten die Notstandsregelungen. Auch damit wurde der Bauplan des noch jungen Staatswesens an entscheidenden Stellen modifiziert. Dem Artikel 20, der die demokratischen Prinzipien beschreibt, fügte man einen vierten Absatz hinzu: "Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist." Was kämpferisch klang, war in Wahrheit eher ein Aufruf zur Mäßigung. Die Botschaft lautete: Erst dann, wenn wirklich keine andere "Abhilfe möglich ist", besteht ein Recht zum Widerstand. Nicht vorher. Gleichzeitig wurden damals elf Artikel geändert und 16 ergänzt, ein wichtiges Ziel war: In Fällen "inneren Notstands" sollten nun neben den Landespolizeien auch die Bundespolizei und theoretisch sogar die Bundeswehr gerufen werden dürfen.
Mit der Föderalismusreform wurden Zuständigkeiten von Bund und Ländern entwirrt
Dass mit der Wiedervereinigung im Jahr 1990 eine Reihe von Änderungen der Verfassung fällig würden, war klar. Hatte es in der Präambel anfangs mit Blick auf die DDR geheißen, das "deutsche Volk" habe durch Errichtung des Grundgesetzes "auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war", so ersetzte man diese Worte nun durch neue: Die Deutschen in 16 Bundesländern "haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet". Hatte in Artikel 23 bis dahin die Möglichkeit einer deutschen Wiedervereinigung durch "Beitritt" gestanden, so wurde dort nun das Ziel der europäischen Integration verankert. Mit der Föderalismusreform von 2006 schließlich wurden ganze 19 Artikel geändert, vier ergänzt und zwei gestrichen. Es ging darum, die Zuständigkeiten des Bundes und der Länder etwas zu entwirren.
Viel ist über den Rückbau des Asylgrundrechts im Jahr 1992 gestritten worden. Wo es ursprünglich knapp hieß: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht", füllt die juristische Aushebelung dieses klaren Satzes in Artikel 16a seither die ganze folgende Seite der Taschenbuchausgabe. Auch weitere Grundrechte sind im Laufe der Jahre eingeschränkt worden. Wo es etwa in der Überschrift heißt: "Unverletzlichkeit der Wohnung", in Artikel 13, folgen heute ganze vier Absätze, die den heimlichen Lauschangriff ausbuchstabieren. Während der Bundestag somit im Laufe der Jahre die Grundrechtsgarantien eher reduziert hat, sind auf der anderen Seite neue Versprechen an die Menschen nur äußerst zurückhaltend eingeführt worden.
Staatsziele sind keine Versprechungen, sondern eher hehre Ideen
Ein Beispiel dafür ist der neu geschaffene Artikel 20a, Umweltschutz. "Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung." Dieses neue Staatsziel wurde 1994 ins Grundgesetz aufgenommen und 2002 um die drei Wörter "und die Tiere" für das Tierschutzgebot erweitert. Allerdings ist dieser Artikel nicht einklagbar. Bloße Staatsziele sind keine Grundrechte. Sie sind keine konkreten Versprechungen, sondern eher hehre Ideen.
Die letzte große Initiative zur substanziellen Änderung des Grundgesetzes kam dann 2021. Im vergangenen Jahr diskutierte der Bundestag, Kinderrechte in die Verfassung aufzunehmen und dazu den Artikel 6, Absatz 2 wie folgt zu ergänzen: "Die verfassungsmäßigen Rechte der Kinder einschließlich ihres Rechts auf Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten sind zu achten und zu schützen. Das Wohl des Kindes ist angemessen zu berücksichtigen. Der verfassungsrechtliche Anspruch von Kindern auf rechtliches Gehör ist zu wahren. Die Erstverantwortung der Eltern bleibt unberührt." Das ist denkbar behutsam, es ist zu unkonkret, um einklagbar zu sein. Am Ende fand sich aber selbst dafür keine Mehrheit.