Meinungsressort:Wir machen keine Meinung

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Anlieferung der Kommentare. (Foto: SZ-Zeichnung: Luis Murschetz)

Wollen wir gar nicht. Wir haben höchstens eine, und die ist bei jedem anders. Das einzige, was wir auf der Seite Vier verlangen, ist ein demokratischer Grundkonsens.

Von Detlef Esslinger

Wer im Hauptberuf Meinungsartikel schreibt oder organisiert, wird womöglich ab und an hören, ein Meinungsmacher (oder eine Meinungsmacherin) zu sein. In der Zuschreibung klingt mitunter eine Art Bewunderung durch: Wow, welchen Einfluss man da bestimmt hat!

In der Meinungsredaktion der Süddeutschen Zeitung arbeiten drei Frauen und drei Männer. Sie alle nehmen für sich in Anspruch, ehrbar ihrem Beruf nachzugehen - weshalb sie auf eine solche Titulierung dankend verzichten. Jede solche Bewunderung hakt ja schon daran, dass sie nur ein "r" vom Tadel entfernt liegt: Meinungsmacher würden viele womöglich auch gerne sein - Meinungsmache hingegen ist niemals nett gemeint.

Vor allem aber hat die Zuschreibung wenig mit dem Berufsverständnis hier zu tun. Denn wir machen keine Meinung. Wollen wir gar nicht. Wenn es gut läuft, machen wir Debatten. Was ein sehr großer Unterschied ist. In einem Ministerium oder einem Verband würde eine Pressesprecherin, die auf sich hält, ja auch nicht akzeptieren, "Pressechefin" genannt zu werden. Nur wer das Anmaßende an einer Titulierung erkennt, hat überhaupt die Chance, sich nicht selbst in die Falle zu gehen.

Humor ist erwünscht

Würden wir Meinung machen wollen - wir würden schon daran scheitern, dass es in der SZ keine Redaktionsmeinung gibt, bei keinem einzigen Thema. Keine Chefredakteurin, kein Verleger hat hier jemals derlei vorgegeben (und erst recht keine Regierung, falls dies tatsächlich noch jemand glaubt). Daher klingt es für uns immer etwas befremdlich, wenn in einer Presseschau zum Ende des Zitats jeweils die Formel kommt: "... meint die Süddeutsche Zeitung." Nein, nein, die Süddeutsche Zeitung meint überhaupt nichts, sondern es meinen nur Henrike Roßbach oder Stefan Kornelius, Werner Bartens oder Angelika Slavik in der Süddeutschen Zeitung. Das heißt: Wir ermöglichen allen Kolleginnen und Kollegen hier, ihre jeweilige Meinung zu schreiben. Wir erwarten lediglich, dass die Analyse in sich stimmig und aus sich heraus verständlich ist, dass die ihr zugrunde liegenden Fakten korrekt sind. Im Idealfall ist der Text sogar unterhaltsam geschrieben, Humor wird nicht nur toleriert, sondern ist erwünscht. Zu welchem Schluss ein Kommentar dann kommt, ist dem überlassen, der ihn schreibt.

Es ist also keine Panne, sondern Konzept, wenn im Meinungsteil der SZ am einen Tag mit großer Entschiedenheit ein Ende der Maskenpflicht verlangt wird, und am nächsten Tag, dass die Regierenden bei dem Thema gar nicht vorsichtig genug sein können. Es soll so sein, dass der eine Autor zum Ergebnis kommt, die bisherigen Entlastungspakete der Ampel hülfen den Armen nicht wirklich, und die andere Autorin zweifelnd fragt, wie die eigentlich alle bezahlt werden sollen.

Wer uns regelmäßig liest, mag es mitunter als Zumutung empfinden, heute so und übermorgen so adressiert zu werden. Doch genau darum geht es: sich auf der Basis widerstreitender Meinungen eine eigene Meinung zu bilden oder an Debatten teilzunehmen, im Familienkreis, im Verein, in einer Partei. Es ist ein paar Jahre her, da bewarb sich ein junger Mann bei uns für ein Volontariat. Zur Begründung schrieb er unter anderem, seine journalistischen Vorbilder seien Marc Beise und Heribert Prantl. Stammkunden des Meinungsteils werden darin eine höchst erstaunliche Paarung sehen. Aber sind es im Grunde nicht herrliche Leser, die wahrscheinlich auch Friedrich Merz und Sahra Wagenknecht gleichermaßen mit Gewinn zuhören?

Warum die SZ keine Wahlempfehlungen ausspricht

Grundsätzlich undenkbar wäre bei der SZ (wie übrigens in praktisch der gesamten deutschen Presse), was in Großbritannien und den USA beinahe selbstverständlich ist: dass die Redaktion vor einer Bundestags- oder Bürgermeisterwahl eine konkrete Empfehlung ausspricht, für den einen, gegen die andere. Diese Art der Verortung strebt hier niemand an. Ein demokratischer Grundkonsens reicht; der aber wiederum ist unbedingt vonnöten. Man wird in der Süddeutschen Zeitung keine rassistischen Kommentare finden; niemanden, der dem Konzept einer illiberalen Demokratie etwas abgewinnen könnte; niemanden, der in einem Angriffskrieg aus dem Aggressor das eigentliche Opfer machen würde. Das unterscheidet Demokraten von so vielen Populisten: dass sie die Instrumente der Meinungs- und Pressefreiheit zwar erstens mit Freuden nutzen, dies zweitens aber stets auf der Grundlage eines gemeinsamen Wertekanons tun.

Und damit zu den Abgründen der Meinungsredaktion. Dies ist ein Ressort, in dem "Leiter" nichts zum Klettern ist, weshalb man auch nicht die, sondern der Leiter sagt. In der Alltagssprache des Ressorts kommen zudem ein "Edi" und eine "MaMi" vor, die aber kein Eduard und keine Mutter sind; außerdem ein Profil, das vieles ist, aber ganz bestimmt kein Profil. Jedenfalls geht es bei der Planung Tag für Tag darum, mindestens sieben Texte plus eine Karikatur zu organisieren. Der größte dieser Texte ist zugleich derjenige, der in der gedruckten und in der digitalen SZ jeweils oben platziert wird. Dem Publikum ist er unter dem Begriff "Leitartikel" bekannt - in der Redaktion sagen alle nur "Leiter". Um etwa ein Drittel kürzer sind zwei jeweils mittellange Kommentare; intern "Edi" genannt, eine Abkürzung von "Editorial", was aber eigentlich in die Irre führt: Editorial, so heißen normalerweise die Geleitworte in Zeitschriften oder Broschüren. Meistens ist es eines dieser Edis, das jeden Tag immer schon am Vormittag geschrieben wird - damit es zusätzlich MaMi werden kann, nämlich Meinung am Mittag, auf der SZ-Homepage.

"Profil" wiederum bezeichnet im sonstigen Sprachgebrauch ein Porträtfoto, aufgenommen von der Seite. Der Meinungsteil bringt jeden Tag ein Porträt plus das dazugehörige Foto, aber immer, immer, immer von vorne. Warum es trotzdem "Profil" heißt? Keine Ahnung. War immer so. Dann haben wir noch zwei kurze Kommentare, ein Aktuelles Lexikon und eine Karikatur jeden Tag. Das Erstaunliche ist: Sie werden auch intern so genannt.

"Warum denn wieder ich?"

Wie wir es schaffen, jedes Mal ein komplettes Programm hinzukriegen, ist ebenfalls so ein Rätsel. Es gibt Tage, an denen hat man sieben Möglichkeiten für sieben Plätze. Es gibt Tage, da will niemand diesen Leiter schreiben, und wenn man - wirklich nur zum Beispiel - deshalb jemanden in der Berliner Parlamentsredaktion darum bittet, kann die Antwort sein, warum denn wieder ich, ich schreib' schon die ganze Woche jeden Tag zwei Stücke, kann das heute nicht "München" machen? Es gibt aber auch Tage, an denen wollen drei Menschen den Zuschlag dafür. Dann sagt einer aus der Parlamentsredaktion, das müsse heute aber wirklich aus Berliner Perspektive geschrieben werden; dann sagt einer aus München, dieser Leiter müsse eher "grundsätzlich" angelegt sein (übersetzt: von ihm geschrieben werden); worauf auch die Frage denkbar ist, ob eigentlich jemandem auffällt, dass die letzten fünf Leiter alle von Männern geschrieben wurden, wenn das jetzt kein Argument sei. Bis vor ein paar Jahren standen die beiden Edis übrigens nicht neben-, sondern untereinander, es gab das kleine und das große, und es soll hier einen Kollegen gegeben haben, der auch begabt darin war, sich stets das kleine zu besorgen. Weil es dasjenige war, das weiter oben, also prominenter, stand.

Manchmal werfen wir in unseren Kommentaren anderen vor, Regierungskoalitionen zum Beispiel, sich an sachfremden Kriterien zu orientieren. Zum Glück gibt es so etwas wirklich immer nur bei den anderen. "Vermute nie eine Verschwörung, wo einfach nur Chaos ist", hat ein sehr ehemaliger Kollege vor vielen Jahren einmal gesagt. Der Spruch eignet sich mindestens einmal pro Woche zur Anwendung.

Allerdings gibt es auch Ordnung, die zwar wie Chaos aussehen mag, aber in Wahrheit eine ausgeklügelte Form der Systematik ist. Bezogen auf die SZ-Redaktion heißt das: Wenn die Seite Drei so planen würde wie die Meinungsredaktion, wäre sie schnell am Ende. Die Meinungsredaktion im umgekehrten Fall aber auch. Die Seite Drei hat zwar Stücke, die innerhalb von Stunden entstehen, aber sehr oft eben auch solche, deren Vorlauf mehrere Wochen beträgt: wenn eine Reporterin mit einem Schornsteinfeger unterwegs ist, wenn ein Reporter einen Gasspeicher besucht. In der Meinungsredaktion ist es exakt andersherum: Am 10. Oktober werden wir einen Leiter zur Niedersachsenwahl haben, das ist seit Wochen gewiss, und zu Tiktok war neulich auch seit Langem mal etwas fällig.

Schreibe nie etwas vor!

Manche Termine sind absehbar, manche Texte befassen sich mit den Zeitläuften generell, aber sehr, sehr viele leben unmittelbar von der Aktualität. In der Regel wissen wir am Freitagabend, was für Leitartikel es in der kommenden Woche geben soll: solche hin zu einem Ereignis, solche unmittelbar nach einem Ereignis, solche, die nicht an den Tag gebunden sind. In der Regel wird diese Planung aber nie so umgesetzt. Sondern es wird permanent geplant und umgeplant.

Wovon man jeder Kollegin, jedem Kollegen nur abraten kann: für den Meinungsteil im Voraus zu schreiben, weil man am geplanten Erscheinungstag vielleicht nicht da ist ("Dann habt ihr's schon mal"). Wir sind im Meinungsressort nicht böse, und wenn, dann nur sehr selten. Aber wir sind einer rätselhaften Kraft ausgeliefert, die seit 77 Jahren beständig dafür sorgt, dass ein vorgeschriebenes Stück in größte Gefahr gerät, erst mal nicht zu erscheinen. Ein hinterlassenes Profil über die niederländische Kronprinzessin Amalia fürs Wochenende? Hatten wir neulich. Und dann starb die Queen. Ein Leiter, weil alle Deppen sind, die keinen Nachfolger fürs Neun-Euro-Ticket wollen? Und dann wird der beschlossen, sobald die Autorin ab in den Urlaub ist. Falls das aber an einem Tag passiert, an dem in Berlin niemand kann und in München niemand grundsätzlich werden will: Es gibt ja noch die Kunst des Umschreibens.

Im Idealfall schickt die Kollegin dann eine SMS aus den Bergen: Sie habe gar nicht gemerkt, dass man etwas geändert habe.

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