Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz:Schluss mit Stillhalten

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Demo gegen Sexismus in Hamburg (Archivbild): Machtmenschen sind es gewohnt, dass ihre Wünsche erfüllt werden. (Foto: picture alliance / dpa)

Anzügliche Blicke und Bemerkungen, Gegrapsche und Gebaggere. Mehr als jede zweite Frau hat schon Erfahrungen mit sexueller Belästigung gemacht. Am Arbeitsplatz fällt es besonders schwer, sich dagegen zu wehren. Frauen müssen lernen, Grenzen zu setzen, und Männer, diese zu erkennen und anzuerkennen.

Von Alexandra Borchardt und Tanja Rest

Wäre es nicht der FDP-Spitzenkandidat gewesen, der an jenem Abend erst zu tief ins Weißweinglas und dann in den Ausschnitt der Journalistin Laura Himmelreich spähte ("Sie können ein Dirndl auch ausfüllen"), hätte der Stern also nicht über den Anmachversuch von Rainer Brüderle, sondern über einen x-beliebigen Schwerenöter aus der mittleren Führungsetage berichtet, die Geschichte hätte keinen interessiert. Weil die Geschichte so gewöhnlich ist.

Episoden wie diese - und viel schlimmere - geschehen in Deutschland täglich unzählige Male. Jede Frau hat so etwas schon einmal selbst erlebt oder zugesehen, wie es einer anderen passiert ist: die anzüglichen Blicke und anspielungsreichen Bemerkungen, die ungewollte körperliche Nähe, das Gegrapsche und Gebaggere, diesen anschwellenden Bocksgesang.

Es ist ein gängiges Thema bei privaten Frauenrunden, oft wird dabei laut und spöttisch gelacht. Die Kerle mit ihren aufgepumpten Egos! Wie sie mal wieder auf die Beine und ins Dekolleté geschielt haben. Die eitlen alten Säcke mit ihren schwülen Galanterien und schalen Witzchen und zudringlichen Fingern, herrje, sie werden es niemals kapieren. Zum Totlachen!

Wo hört der Flirtversuch auf?

Oft ist der Tenor aber auch ein ganz anderer. Frauen berichten, wie sie stockstarr vor Schreck dastanden und nichts tun konnten, als der Arm des Abteilungsleiters um ihre Taille wanderte und dort liegen blieb. Dass es ihnen buchstäblich die Sprache verschlug, als der Chef die Größe ihrer Brüste kommentierte - vor Publikum.

Frauen nehmen sich das manchmal noch Wochen später übel, dass sie in einer solchen Situation einfach stillgehalten und gelächelt haben. Weil sie in diesem Moment so völlig überrumpelt waren. Weil es sich um einen Vorgesetzten handelte, den sie nicht brüskieren wollten, schon gar nicht im Beisein Anderer. Weil sie ja den Anspruch an sich haben, cool zu sein.

Sexuelle Belästigung: Da denken die meisten gleich an den Griff unter die Bluse, den erzwungenen Kuss auf den Mund oder gar die versuchte Vergewaltigung. Das 2006 in Kraft getretene Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) definiert den Terminus als "unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten, das die Würde der betreffenden Person verletzt". Ausdrücklich inbegriffen sind auch "sexuell bestimmte körperliche Berührungen" und "Bemerkungen sexuellen Inhalts".

Der Rest ist Interpretationssache. Wo hört der Flirtversuch auf? Wo ist die Grenze zur Belästigung überschritten?

Für Frauen ist es in der Situation selbst oft schwerer, auf die schlüpfrigen Sprüche und kleinen Fummeleien zu reagieren als auf die explizite Anmache. Männer können in dieser Grauzone immer noch behaupten, das sei doch alles völlig harmlos und nett gemeint gewesen (und insbesondere die Altherrenriege glaubt sich das meist auch). Eine Frau, die da ablehnend reagiert, steht ganz schnell als gehemmte Zicke da. Als eine, die "sich anstellt".

Auf Süddeutsche.de schreibt ein User unter dem Namen "Alter Preusse" zum Fall Brüderle: "Diese ganzen Sexismus-Vorwürfe, mit denen wir heute konfrontiert werden, sind in der Masse so konstruiert und aus der Luft geholt, dass es nur noch prüde, verklemmt und nach bigottem Mittelalter mufft."

Frauen wissen schon, warum sie so oft stillhalten.

Davon abgesehen stört sich nicht jede an einem sexistischen Spruch, die Toleranzschwelle liegt da ganz unterschiedlich. "Wenn ich Sie so anschaue, könnte ich glatt vergessen, dass ich verheiratet bin." Oder: "Sie haben aber rattenscharfe Beine in dem Rock" - für manche mögen solche Bemerkungen noch als Kompliment durchgehen, für andere nicht.

Eine gewaltig hohe Zahl

Man darf von den Männern erwarten, dass sie das mitbekommen. Ein Mann, der einer Frau den Arm um die Taille legt, merkt innerhalb weniger Sekunden, ob ihr das angenehm ist, sie also auf die Berührung eingeht - oder nicht. Er muss es allerdings auch merken wollen. Die Brüderles dieser Welt, berauscht in erster Linie von sich selbst, haben da offensichtlich Defizite.

In einer repräsentativen Untersuchung des Bundesfamilienministeriums aus dem Jahr 2010 haben fast 60 Prozent der befragten Frauen angegeben, dass sie schon einmal Situationen sexueller Belästigung erlebt haben - in der Öffentlichkeit, bei der Arbeit oder "im sozialen Nahraum". Das ist eine gewaltig hohe Zahl.

Jede Zweite aus dieser Gruppe berichtete, sie habe schon einmal Angst um ihre Sicherheit gehabt und sich ernsthaft bedroht gefühlt, jede Zehnte erzählte von tatsächlicher Gewalt. Für 22 Prozent der Befragten war die Arbeits- oder Ausbildungsstätte Tatort, sie konnten also nicht einfach verschwinden. Manche waren regelrecht traumatisiert und hatten panische Angst davor, ins Büro zu gehen. "Tatsächlich ist in den meisten Fällen ein großes Machtgefälle zwischen Tätern und Opfern zu beobachten", heißt es in der Studie, "besonders oft werden Abhängigkeitsverhältnisse ausgenutzt."

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Machtmenschen sind es gewohnt, dass ihre Wünsche erfüllt werden. Sie diktieren anderen die Agenda und bekommen dafür in der Regel Gehorsam und Zustimmung zurück. Zu viele Frauen haben ihnen auch bestätigt, dass sie die Insignien und Aura der Macht sowie deren finanzielle Begleiterscheinungen durchaus anziehend finden.

Beim "Slutwalk" in Berlin protestieren Frauen - und Männer - gegen Sexismus. (Foto: dpa)

Mächtige Männer halten sich häufig für unwiderstehlich - muss es nicht jede Frau als Auszeichnung empfinden, von ihnen wahrgenommen, ja begehrt zu werden? Wer erinnert sich nicht an Dominique Strauss-Kahn, dem Entsetzen und Unverständnis ins Gesicht geschrieben stand, als man ihm die Vergewaltigung eines Zimmermädchens vorwarf?

Sexuelle Belästigung ist immer auch ein Instrument, Machtverhältnisse zu demonstrieren oder herzustellen. Wer eine Mitarbeiterin wie ein Playboy-Bunny behandelt, hält sie klein.

Programmierte Missverständnisse

Es gibt viele Männer, das sei hier ausdrücklich gesagt, die sich nicht so verhalten. Manche sind genauso angewidert, wenn Frauen belästigt werden, wie die Frauen selbst. Und wahr ist natürlich auch: Wo erwachsene Menschen zusammentreffen, kann erotische Spannung entstehen, oft befeuert von beiden Seiten, oft auch nur in eine Richtung. Je enger der Kontakt, je intimer die Situation, umso wahrscheinlicher der hormonelle Funkenflug. Da kann es zu Missverständnissen kommen.

Häufig entstehen sie in Umfeldern, in denen Männer den professionellen Umgang mit Frauen (noch) nicht gewohnt sind. In vielen Militärs hat man sich lange gegen den Einzug der Frauen in die Truppe gewehrt. Nicht unbedingt, weil man ihnen weniger zugetraut hatte als den Männern, sondern weil man den Männern den Umgang mit den Frauen nicht zugetraut hatte. Für US-Soldatinnen sei das Risiko deutlich höher, von ihren Kameraden sexuell attackiert, als vom Feind verwundet zu werden, schrieb die New York Times gerade.

Auch in Vorstands- oder anderen Leitungsrunden müssen sich Männer erst darauf einstellen, dass man mit Frauen am Tisch manche Wortmeldung und etwaige Abendprogramme anders gestalten sollte. Das empfinden einige Männer durchaus als Verlust an Lebensqualität. Passen sich Frauen den kumpeligen Umgangsformen der Kollegen an, wird das hingegen oft falsch verstanden. Die Verunsicherung ist groß - auf beiden Seiten.

Missverständnisse entstehen nicht zuletzt, wenn Status, Sozialisation und Lebenserfahrung von Mann und Frau weit auseinander liegen. Viele Vertreter der Generation, die dem Altherren-Witz den Namen gab, sind damit aufgewachsen, untereinander um den derbsten Brüller zu konkurrieren, Frauen dagegen mit Komplimenten zu überschütten. Was für den 65-Jährigen normales Balzverhalten ist, treibt die 25-Jährige direkt zur Gleichstellungsbeauftragten.

Männer können sich heute nicht mehr darauf verlassen, dass die Belästigte zum Schein mitspielt und die Klappe hält. Frauen gehen immer selbstbewusster gegen Übergriffe vor, sie erzählen ihre Erlebnisse im Internet und auf Twitter ( aktuell unter dem Hashtag #Aufschrei), sie haben auch gesetzlich bessere Möglichkeiten, sich zu wehren.

Laut AGG ist der Arbeitgeber verpflichtet, seine Beschäftigten vor Belästigungen sexueller Art zu schützen. In Betracht kommen je nach Schwere des Vorfalls eine Abmahnung, eine Versetzung oder auch die Kündigung. Doch auch wenn die Gerichte sehr häufig zugunsten der Frauen entscheiden: Noch immer müssen sie damit rechnen, sich hinterher den Vorwurf anhören zu müssen, sie hätten es doch "drauf angelegt".

Auch solche Fälle gibt es. Frauen, denen man raten würde, die Netzstrümpfe doch besser für den privaten Opernbesuch und das seidene Spaghetti-Top für den Teil danach aufzuheben. Die genauso gut hätten gehen können, abends nach dem zweiten Drink an der Bar, aber doch bis zum Schluss geblieben sind. Manche genießen es ein bisschen zu sehr, dass der mächtige Mann ihnen gegenüber plötzlich auftaut und vertraulich wird. Wenn Frauen ihre Erotik bewusst einsetzen, haben auch sie Macht. Einige wenige tun es so offensiv, dass es auch schon wieder sexuelle Belästigung ist - von Männern.

Der Arbeitsplatz darf kein freudloser Raum werden

Können die Geschlechter noch entspannt miteinander umgehen, wenn sie all dies beachten? Will man das überhaupt: in einer Welt leben, in der jeder harmlose Flirt der Professionalität, der Political Correctness weichen muss? Sollen Frauen etwa die Einheitskluft der Männer kopieren, um sich im Wortsinn weniger angreifbar zu machen? Und sollen Männer ihre charmante Seite verbergen, bei jedem Kolleginnen-Kontakt auf Abstand gehen?

Sicher nicht. Der Arbeitsplatz darf kein freudloser Raum werden. Je nach Umfrage lernen immerhin bis zu 30 Prozent aller Deutschen ihren Partner im Job kennen. Auch bei Gerhard Schröder und Doris Köpf war der Kontakt zunächst beruflich, auch da gab es ein großes Machtgefälle. Einer von beiden muss irgendwann den ersten Schritt gemacht haben, keiner von beiden fand das offenbar unpassend. Und genau da liegt der Unterschied: Zum Flirt gehören zwei, belästigt wird immer nur einer.

Männer werden sich in Zukunft auf allen Hierarchiestufen und in den allermeisten Berufen daran gewöhnen müssen, von mehr und ganz unterschiedlichen Frauen umgeben zu sein. Sie werden lernen müssen, die Sprache der Frauen zu interpretieren - gerade dann, wenn diese hierarchisch unter ihnen stehen. Frauen müssen noch stärker als bisher ausdrücken, wenn ihnen ein bestimmtes Verhalten unangenehm ist. Es geht darum, Grenzen zu setzen, sich selbst und anderen. Aber deshalb müssen wir nicht gleich verkrampfen.

© SZ vom 26.01.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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