Ist der als Spitzenkandidat für die Bundestagswahl auserkorene Rainer Brüderle ein "spitzer Kandidat", der die Grenzen der professionellen Distanz überschreitet? Diesen Vorwurf erhebt die Stern-Redakteurin Laura Himmelreich und wirft damit ein Schlaglicht auf die Haltung des FDP-Politikers Frauen gegenüber - und auf ein womöglich unterschätztes Sexismus-Problem im Berliner Politikbetrieb.
Himmelreich beschreibt in einem Artikel, der am Donnerstag im Stern erscheint und von dem ein Vorab-Auszug vorliegt, einen Annäherungsversuch Brüderles in einer Hotelbar vor gut einem Jahr. "Brüderles Blick wandert auf meinen Busen", beschreibt sie dort, anschließend habe der FDP-Mann gesagt: "Sie können ein Dirndl auch ausfüllen." Im Laufe des Gesprächs habe er nach ihrer Hand gegriffen und diese geküsst.
Als Himmelreich versucht habe, den Politiker daran zu erinnern, dass sie Journalistin sei, habe er nur geantwortet: "Politiker verfallen doch alle Journalistinnen." Anschließend soll sich eine Sprecherin Brüderles bei Himmelreich entschuldigt haben.
Die Pressestelle der FDP war auf Anfrage von SZ.de zu keiner Stellungnahme zu dem Stern-Artikel bereit. Auch andere Medien, wie etwa Spiegel Online, bemühten sich um eine Stellungnahme. Auch ihnen wurde schon den ganzen Tag nicht geantwortet.
"Ich vermisse deine Nähe"
Das Thema Sexismus hat jüngst größere öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Vor eineinhalb Wochen hatte die Spiegel-Online-Journalistin Annett Meiritz in einem Artikel den Sexismus im Berliner Politikbetrieb beschrieben. Darin hatte sie geschildert, wie aus den Reihen der Piraten diffamierende Gerüchte über sie verbreitet wurden und sie öffentlich als Prostituierte bezeichnet wurde.
Auch von Mitgliedern etablierter Parteien schrieb sie damals, ohne Namen zu nennen. "Schön ist es nicht, wenn mich ein amtierender Bundesminister zur Begrüßung extrafest an die Taille packt. Oder wenn, wie es eine Volontärin erlebte, ein Spitzenpolitiker nach einem Arbeitsessen 'Ich vermisse deine Nähe' simst." Der Artikel fand im Netz ein großes Echo. Der Vorstand der Berliner Piraten entschuldigte sich später in einem offenen Brief und kündigte an, sich stärker gegen Sexismus einzusetzen.
Auch die Männer in der FDP sehen sich immer wieder mit dem Thema Frauenfeindlichkeit konfrontiert. Bislang ging es dabei jedoch nicht um mangelnde körperliche Distanz, sondern vor allem um Benachteiligung weiblicher Mitglieder.
"Die Situation für Frauen in der FDP ist nach wie vor sehr schwierig", sagt Doris Buchholz, Bundesvorsitzende der Liberalen Frauen, im Gespräch mit SZ.de. "Beschlüsse des Bundesvorstandes, bei denen es um die stärkere Beteiligung von Frauen ging, sind nur zu einem ganz kleinen Teil umgesetzt worden."
Systematisch ausgebremst
Hinter vorgehaltener Hand berichten weibliche FDP-Mitglieder davon, dass Frauen bei der Aufstellung von Landeslisten systematisch ausgebremst würden. Bei der Landtagswahl in Niedersachsen gingen vier der insgesamt 14 FDP-Mandate an Frauen. Im Landtag von Nordrhein-Westfalen sind vier der 22 FDP-Abgeordneten weiblich.
Vor etwa einem Jahr, im Januar 2012, hatte Bucholz' Stellvertreterin bei den Liberalen Frauen, Brigitte Pöpel, ihren Austritt aus der Partei erklärt. Der Grund: Es herrsche ein "frauen- und familienfeindlicher Ton" in der FDP. Buchholz nannte die FDP damals einen "Männerverein" und klagte: "Ich habe schon erlebt, dass man mir gesagt hat, man möchte gut aussehende Frauen auf Wahlplakaten - nach dem Motto: Sex sells." Im Hinblick auf die Sexismus-Vorwürfe gegen Brüderle sagt Buchholz allerdings: "Ich kann mir das nicht vorstellen."
Einige Mitglieder der FDP-Führung griffen den Stern wegen des Veröffentlichungszeitpunkts an. "Es ist schade, auf welches Niveau der Stern mittlerweile gesunken ist", sagte Wolfgang Kubicki zu Spiegel Online. "Diese Geschichte ist ein Tabubruch", erklärte FDP-Präsidiumsmitglied Jörg-Uwe Hahn dort. "Wer es nötig hat, so etwas als 'Story' zu verkaufen, hat sich von seinem Chefredakteur vor den schmutzigen Karren spannen lassen."
Auf Twitter antwortete die Autorin Laura Himmelreich auf die Frage des FDP-Politikers Oliver Luksic, wieso sie ihre Vorwürfe erst ein Jahr danach publik mache.
Mitarbeit: Johannes Kuhn, Michael König