Sabine Czerny hat einen wunden Punkt getroffen. Die Lehrerin spricht das aus, was Eltern hören wollen. Zumindest die Eltern, die an diesem Abend im Oktober ins Münchner Literaturhaus gekommen sind, um sich Czernys Buch präsentieren zu lassen - wenn sie es nicht schon gelesen haben. Was wir unseren Kindern in der Schule antun ... und wie wir das ändern können, heißt das fast 400 Seiten umfassende Werk - und das Interesse daran ist groß.
Sabine Czerny kämpft für ein Bildungssystem ohne Noten. Die Unterstützung der Eltern ist groß.
(Foto: Jan Roeder)Der Saal des Literaturhauses ist an diesem Abend gut gefüllt. Junge Eltern sitzen neben ergrauten Lehrern mit Nickelbrille, Lehramtsstudenten neben Alt-68ern. Die einen diskutieren über Sinn und Zweck eines Übertrittszeugnises, die anderen berichten von panischen Eltern in Lehrersprechstunden. Dass sie an diesem Abend alle gemeinsam hier sitzen, das liegt am Thema der umfassenden Streitschrift - und es liegt an Sabine Czerny selbst.
Hier schreibt eine Grundschullehrerin, die vor zwei Jahren an eine andere Schule versetzt wurde, weil der Notendurchschnitt in ihrer Klasse zu gut war. Eine Lehrerin, die ihren Beruf mit Leidenschaft ausübt und sich mitunter gefangen fühlt in den Zwängen des Systems. Eine Lehrerin, die die Leistungsbemessung in deutschen Schulen für das Grundübel unseres Bildungssystem hält. Eine Lehrerin, die davon überzeugt ist, dass jedes Kind lernen will, wenn nicht die ständigen Leistungsvergleiche wären. Darüber hat sie jetzt ausführlich geschrieben.
Ihr Plädoyer ist für die junge Frau durchaus ein Risiko. Czerny ist noch immer als Lehrerin an einer bayerischen Grundschule aktiv. Morgens leitet sie den Unterricht in ihrer ersten Klasse, nachmittags versucht sie derzeit neben der Unterrichtsvorbereitung auch den Presseanfragen gerecht zu werden. "Ich bleibe eigentlich gerne im Hintergrund, aber diese Geschichte damals hat mir eine öffentliche Rolle beschert, die ich jetzt auch annehme", sagt sie wenige Tage vor ihrem Auftritt in München.
Dass sie die geballte Aufmerksamkeit und das Scheinwerferlicht dann tatsächlich ein bisschen nervös machen, davon zeugen im Literaturhaus ihre roten Wangen und ihr hohes Sprechtempo, als sie beginnt, in stakkato darzulegen, warum Noten den Kindern nur schaden. "Noten demoralisieren und demotivieren, sie suggerieren Unterschiede, die gar nicht da sind", steigt sie sein - und gibt damit eine Kernthese ihrer Streitschrift wieder. Jedes Kind wolle lernen und habe Spaß daran - die einen erreichen ihr Lernziel eine Woche früher, die anderen eine Woche später.
Sobald es jedoch um Noten gehe und eine Probe, wie Prüfungen in der Grundschule heißen, anstehe, ändere sich die Atmosphäre. "Die Kinder haben Angst. Die Kinder geraten in Stress und unter Druck. Wenn sie sich nicht bei der ersten Probe fürchten, so doch spätestens bei der zweiten oder dritten", schreibt Czerny in ihrem Buch.
Und die Eltern wissen es: Wenn eine Prüfung geschrieben wird, ist es egal, ob jemand das abgefragte Können schon eine Woche später perfekt beherrscht. "Allen Kindern werden zur gleichen Zeit die gleichen Inhalte aufgezwängt. Das macht es uns Lehrern unmöglich, individuell auf einzelne Schüler einzugehen", sagt Czerny.