Kollektive:"Junge Menschen wollen anders arbeiten"

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Das Kneipenkollektiv "Meuterei" in Berlin-Kreuzberg musste Ende März aufgeben, weil sein Mietvertrag nicht verlängert worden war. (Foto: Ralf Pollack/Imago Images)

In Kollektivbetrieben dürfen alle Mitarbeiter gleichberechtigt mitreden. Mit welchen Konflikten die Gründer rechnen müssen.

Interview von Jasmin Siebert

"Kunst des Scheiterns" ist der Name eines Hamburger Vereins, der sich der "Förderung kollektiven Wirtschaftens" verschrieben hat. Der Name ist ironisch gemeint, denn der Verein sucht nach den Geheimnissen funktionierender Kollektivbetriebe. Sonja Löser ist Diplom-Pädagogin, Psychotherapeutin (HPG) und selbständiger Coach. Seit mehr als zehn Jahren berät sie ehrenamtlich Kollektive, vor allem bei der Gründung oder in Krisen.

SZ: Was ist ein Kollektivbetrieb?

Sonja Löser: In einem Kollektiv gibt es keinen Chef, jeder hat gleich viel zu sagen. Entscheidungen werden idealerweise im Konsens getroffen. Der Betrieb gehört allen zu gleichen Teilen. Viele Kollektive haben darüber hinaus einen transformatorischen Anspruch, sie wollen Teil eines anderen Wirtschaftssystems sein.

Sonja Löser (Foto: Malzkorn/www.malzkornfoto.de)

Ist Einheitslohn auch ein Kriterium?

Ja. Wer die Buchführung macht, sollte genauso viel verdienen wie die Reinigungskraft. Es gibt aber auch Modelle von bedarfsgerechter Bezahlung. Dann erhält jemand mehr aus gesundheitlichen Gründen oder weil er viele Kinder hat.

In Deutschland sind Kollektive kaum verbreitet. Wie sieht es anderswo aus?

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Das hängt von der politischen Tradition ab. Es gibt in den USA eine starke Kollektivbewegung aus den Resten der Hippiezeit und den Wobblies, den Industrial Workers of the World. Auch die Schweiz hat eine alte libertäre Tradition. In Skandinavien gibt es einen ähnlichen Trend wie in Deutschland. Junge Menschen wollen anders arbeiten und gründen wieder Kollektive. Und man kann beobachten, dass überall dort, wo Krisen ausbrechen und Reste kollektiver Traditionen bestehen, wie etwa in Südeuropa, das Kollektive recht schnell wieder funktioniert. Dann übernehmen zum Beispiel die Arbeiter eine Firma.

Gibt es so etwas auch in Deutschland?

Es gab den Fall einer Fahrradfabrik in Nordhausen. Als sie 2007 geschlossen werden sollte, haben Arbeiter den Betrieb besetzt. Eine Woche lang produzierten sie weiterhin Fahrräder. Dabei fingen einige Feuer und gründeten ihr eigenes Fahrradkollektiv. Leider hat es nicht überlebt, der Markt ist sehr schwierig.

In welchen Branchen sind Kollektive am weitesten verbreitet?

Kneipen, Bioläden, Handwerksbetriebe, Buchhandel und Druckereien. Früher war fast jeder Copyshop ein Kollektiv, das liegt an der Geschichte der Druckindustrie. In Hamburg haben wir auch viele Kaffeeröstereien.

Es gibt auch Taxifahrer, Haushaltshilfen, Journalisten oder Kitas, die kollektiv arbeiten. Kann man in jeder Branche als Kollektiv wirtschaften?

Im Prinzip ja. Aber: Du brauchst Kapital und Kompetenz. Viele Banken und Vermieter trauen Kollektiven nicht. Und wenn eine hohe Qualifikation gefragt ist, geht die nicht immer mit der passenden politischen Einstellung einher.

Worüber streiten Kollektive am häufigsten?

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Klassiker sind Geld und Einsatz. Wenn einer mehr Geld zur Gründung beigesteuert hat, entstehen informelle Machtstrukturen. Das passiert auch, wenn nur eine Person eine bestimmte Kompetenz hat.

Wäre es also besser, wenn alle die gleiche Qualifikation hätten?

Es kommt nicht darauf an, dass alle das Gleiche können, sondern, dass jeder irgendetwas Wichtiges kann. Die wichtigsten Zahlen sollten aber alle verstehen. Sonst können sie keine begründeten Entscheidungen treffen.

Welche Tipps haben Sie noch für Leute, die ein Kollektiv gründen wollen?

Der Gesprächsaufwand ist erheblich höher, deswegen sollte man eine gute Kommunikationsstruktur aufbauen. Und von vornherein klären: Wie kommt eine Person rein und raus aus dem Kollektiv? In einem Binnenvertrag Ziele festlegen und immer wieder darüber sprechen. Auch über rote Linien, wann sich das Kollektiv auflösen sollte. Die Kollektiv-Mitglieder müssen nicht befreundet sein, aber sie sollten so viel voneinander wissen, dass sie die relevanten Haltungen der anderen verstehen können. Jeder muss etwas von der eigenen Biografie preisgeben. Ein Kollektivbetrieb funktioniert nur, wenn Vertrauen da ist.

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