Suizidgefahr bei Jugendlichen:Entwarnung für Antidepressiva

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Jahrelang gingen Psychiater davon aus, dass einige Antidepressiva das Suizidrisiko von Jugendlichen erhöhen. Eine neue Analyse zeigt nun: Die Medikamente verstärken Suizidgedanken bei jungen Patienten nicht. Sie mildern sie allerdings auch nicht - und wirken damit anders als bei Erwachsenen.

Christian Weber

Der Erlass sorgte vor wenigen Jahren weltweit für heftige Diskussionen in Medizin und Öffentlichkeit. Am 15. Oktober 2004 wies die amerikanische Gesundheitsbehörde FDA Hersteller von Antidepressiva an, ab sofort einen Warnhinweis auf die Beipackzettel zu drucken.

Das Medikament könne bei Kindern und Jugendlichen die Suizidgefahr erhöhen; die Patienten seien daher mit besonderer Aufmerksamkeit zu beobachten. Im Jahr 2006 erweiterte die FDA diese Warnung sogar auf junge Erwachsene im Alter von 18 bis 25 Jahren. Die erste Entscheidung beruhte auf Ergebnissen aus immerhin 25 klinischen Studien, bei denen die Forscher eine kleine, aber statistisch signifikante Zunahme von Suizidgedanken bei den Probanden ermittelt hatten.

Umso mehr erstaunt eine neue Metaanalyse, die jetzt in dem führenden Fachmagazin Archives of General Psychiatry (online) veröffentlicht wurde. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Annahme der FDA falsch war. Die fraglichen Antidepressiva verstärken Suizidgedanken bei Jugendlichen im Vergleich zu Placebo nicht; sie schwächen sie allerdings auch nicht.

Die größte Gefahr ist eine unbehandelte Depression

Die Forscher um den Public-Health-Experten und Psychiater Robert Gibbons von der University of Chicago und den Suizid-Experten John Mann von der Columbia University reanalysierten die Daten von mehr als 9000 jugendlichen, erwachsenen und geriatrischen Patienten aus 41 Studien, die entweder mit den Wirkstoffen Venlafaxin oder Fluoxetin, besser bekannt als Prozac, behandelt wurden. Dabei zeichnet sich die neue Studie dadurch aus, dass die Forscher von den Pharmafirmen und dem National Institute of Mental Health die zum Teil noch nicht publizierten Originaldaten bekamen und sie außerdem erstmalig bei allen Patienten die langfristigen Verläufe rekonstruieren konnten.

Hauptautor Gibbons hofft nun ausdrücklich, dass die neuen Ergebnisse Ärzten und Patienten die Angst nehmen, neben Psychotherapie auch Medikamente einzusetzen, denn eins sei klar: "Die größte Suizidgefahr ist eine unbehandelte oder nichtdiagnostizierte Depression."

Auch Manfred Wolfersdorf, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Bezirkskrankenhaus Bayreuth und ein in Deutschland führender Suizidologe, begrüßt die neue "außerordentlich seriöse" Studie: "Sie setzt einen Schlusspunkt unter eine Diskussion, die wir Psychiater seit den 1980er Jahren führen." Damals gab es die erste und bislang auch einzige Untersuchung, dass Antidepressiva nicht nur die Gedanken verändern, sondern tatsächlich die Zahl der vollzogenen Suizide erhöhen. Nun zeige sich vermutlich endgültig, dass die Befürchtung nicht stimmt, wonach Antidepressiva bei Kindern und Jugendlichen die Suizidalität erhöhen.

Allerdings belegt die neue Studie auch ein weiteres Mal, wie komplex das Phänomen Suizidalität ist. So können die Studienautoren nicht erklären, wieso die untersuchten Medikamente nur bei erwachsenen und älteren Patienten die Suizidalität senken, nicht aber bei Kindern und Jugendlichen - obwohl auch bei ihnen die depressiven Symptome im engeren Sinne abnehmen.

© SZ vom 07.02.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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