Feinstaub und Stickoxide:Wie Ärzte gesundheitliche Gefahren kleinrechneten

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Die meisten Experten gehen davon aus, dass Feinstaub gesundheitsschädlich ist. (Foto: Michael Kappeler/dpa)
  • Das Positionspapier der Lungenärzte im Januar marginalisierte die gesundheitlichen Gefahren durch Stickoxide und Feinstaub.
  • Nun hat die Tageszeitung taz Rechenfehler in der Argumentation gefunden.
  • Bundesverkehrsminister Scheuer, der die aktuellen Grenzwerte bereits in Frage gestellt hatte, wollte sich zu den neuen Entwicklungen nicht äußern.

Von Hanno Charisius und Markus Balser

Vor gut zwei Jahren begann Dieter Köhler, mit seiner Idee hausieren zu gehen. In E-Mails mit verschwörerischem Unterton wandte sich der Mediziner an Journalisten, schrieb von unbequemer Wahrheitssuche und legte in weiteren E-Mails dar, dass das mit dem Feinstaub und den Stickoxiden alles halb so wild sei. Die Berichte über die gesundheitlichen Folgen der Luftschadstoffe bezeichnete er als "Fake News". Journalisten, die nicht über seine haarsträubenden Berechnungen und Vergleiche berichten wollten, unterstellte er, das Thema "totschweigen" zu wollen, "wie die meisten".

Es dauerte eine Weile, bis er dann doch von deutschen Zeitungen, Radiosendern und Talkshows erhört wurde. Im vergangenen Jahr konnte er seine Berechnungen und seine Ansichten zu Grenzwerten verbreiten. Seine Popularität gipfelte im Januar in einem Papier, in dem er und gut hundert weitere Lungenärzte die gesundheitlichen Gefahren durch Stickoxide und Feinstaub erneut marginalisierten. Zudem kritisierte die Gruppe groß angelegte Bevölkerungsstudien, die gesundheitliche Schäden durch Luftschadstoffe beziffern.

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Als Vergleich zogen die Unterzeichner der Stellungnahme starke Raucher heran, die weit größere Schadstoffmengen durch Zigaretten inhalieren als Menschen, die sich im Straßenverkehr bewegen und trotzdem nicht "nach wenigen Monaten alle versterben". Jetzt hat die Tageszeitung taz aufgedeckt, dass sich Köhler und seine Gefolgsleute heftig verrechnet haben.

Nach Köhlers Argumentation bekommt ein Mensch, der lebenslang an einer viel befahrenen Straße lebt, so viele Schadstoffe ab, wie ein Raucher in wenigen Monaten. Angeregt von einem Leserhinweis rechnete die taz nach und kam zu einem anderen, ziemlich erschreckenden Ergebnis: "Wer an einer viel befahrenen Straße wohnt, atmet während eines Lebens von 80 Jahren so viel Stickoxide ein wie ein starker Raucher in sechs bis 32 Jahren." Angesprochen auf diesen und weitere Rechenfehler soll Köhler gegenüber der taz gesagt haben: "Das ist bisher noch niemandem aufgefallen." Offenbar auch keinem der übrigen 100 Unterzeichner und Unterzeichnerinnen seiner Stellungnahme. Auf Anfrage der SZ erklärte Köhler, nicht nur er, sondern auch die taz habe sich verrechnet, zusammenfassend habe sich an den Grundaussagen jedoch nichts geändert.

Aber auch unabhängig von den nun entdeckten Zahlendrehereien und Köhlers fragwürdigen Vergleichen waren seine Argumente wissenschaftlich noch nie fundiert. Dementsprechend harsch war die Kritik internationaler Experten an dem Papier von Dieter Köhler und seinen drei wichtigsten Mitautoren, zu denen Matthias Klingner, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Verkehrs- und Infrastruktursysteme in Dresden zählt, sowie der Leiter des Instituts für Kolbenmaschinen am Karlsruher Institut für Technologie, Thomas Koch, der früher für Daimler Motoren entwickelt hat.

Das Forum der Internationalen Lungengesellschaften, FIRS, betonte in einer Stellungnahme, dass die bestehenden EU-weiten Grenzwerte nicht entschärft werden dürften. "Obwohl die Lunge am stärksten von der Luftverschmutzung betroffen ist, werden dadurch auch andere Organsysteme geschädigt und chronische Erkrankungen verschlimmert", heißt es in dem Text. Krebs, Herzkrankheiten, Schädigungen des Neugeborenen und Demenz seien mit Luftverschmutzung assoziiert, "dafür sind vor allem Partikel mit einem Durchmesser unter 2,5 Mikrometern und andere Dieselabgase verantwortlich." Schäden entstünden "sogar unterhalb der Grenzwerte."

Köhlers gut 100 Mitstreiterinnen und Mitstreiter sind Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin DGP, deren insgesamt 3800 Mitglieder sein Positionspapier mit der Aufforderung zur Unterschrift erhalten hatten. Die Unterzeichner stellten sich damit auch gegen ein 50-seitiges Positionspapier ihrer eigenen Fachgesellschaft aus dem Jahr 2018, in dem es heißt: "Gesundheitsschädliche Effekte von Luftschadstoffen sind sowohl in der Allgemeinbevölkerung als auch bei Patienten mit verschiedenen Grunderkrankungen gut belegt." Mediale Beachtung fand aber vor allem Köhlers Minderheitenmeinung.

An diesem Donnerstag wiederholte die DGP sowie Vertreter von drei weiteren deutschen Fachgesellschaften in einer Aussendung nochmals, dass trotz aller Wissenslücken, die bestehenden Grenzwerte für Stickoxide unbedingt eingehalten werden sollten.

Gegner von Fahrverboten feiern Köhler jedoch ungeachtet aller Kritik wie einen Helden. Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) zweifelte im Januar umgehend die aktuellen Grenzwerten an. Es mehrten sich Stimmen in der deutschen Ärzteschaft, die die wissenschaftliche Herleitung der Grenzwerte für Stickstoffdioxid in der EU-Luftqualitätsrichtlinie infrage stellten, schrieb Scheuer wenige Tage nach Veröffentlichung an EU-Verkehrskommissarin Violeta Bulc.

Scheuer forderte deshalb gar, die Europäische Kommission müsse sich mit den Zweifeln auseinandersetzen sowie die Grenzwerte und die Messstationen prüfen. Er wolle das Thema spätestens beim EU-Verkehrsministerrat am 6. Juni aufgreifen. Auf Einladung der CDU reiste Köhler Anfang Februar nach Brüssel, um dort seine Ansichten vorzutragen. EU-Umweltkommissar Karmenu Vella stellte jedoch vor einigen Tagen klar, wenn die Grenzwerte überhaupt geändert würden, dann würden sie verschärft und nicht gelockert.

Am Donnerstag blieb Scheuer lieber auf Tauchstation. Fragen dazu, ob der Aufruf angesichts gravierender Fehler noch glaubwürdig sei, beantwortete der Minister nicht. Der Aufruf der Lungenärzte habe ja immerhin einen Impuls zur Debatte über die europäischen NOx-Grenzwerte gesetzt, ließ ein Sprecher des Ministeriums lediglich wissen. Die Debatte habe dazu geführt, dass sich die Wissenschaftsakademie Leopoldina des Themas annehmen soll. Und auch in Brüssel werde die "Herleitung des Grenzwerts sowie eine Neubewertung" geprüft.

Ausgerechnet das Ministerium, das die Debatte trotz dünner Faktenlage erst so richtig angefacht hatte, forderte am Donnerstag etwas kleinlaut, diese doch weniger vehement zu führen. Die Debatte müsse nun "wissenschaftlich fortgesetzt und eine Versachlichung herbeigeführt" werden.

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