Psychische Folgen von Mobbing:Ritzen gegen den Schmerz

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Manche Kinder entwickeln aufgrund von Hänseleien oder Ausgrenzung eine so kritische Sich auf sich selbst, dass sie sich mit Gewalt gegen den eigenen Körper bestrafen. Junge Mobbingopfer verletzen sich häufiger selbst als Kinder, die keiner Schikane ausgesetzt sind.

Chrisitina Berndt

Erst verletzen einen die anderen, dann fügt man sich auch selbst Schmerzen zu: Kinder ritzen oder beißen sich häufiger in die Arme, reißen sich Haarbüschel aus oder schlagen ihren Kopf gegen die Wand, wenn sie von Gleichaltrigen schikaniert werden. Darauf weisen britische und US-amerikanische Psychiater und Psychologen hin ( British Medical Journal, Bd. 344, S. e2683, 2012).

Manche Kinder verletzen sich selbst, wenn sie gemobbt wurden, andere bringen sich sogar um. Einem solchen Fall hat die US-Zeitung The Sioux City Journal kürzlich ihre komplette erste Seite gewidmet. (Foto: AP)

Sie haben die Mütter von mehr als tausend britischen Zwillingspaaren über mehrere Jahre hinweg immer wieder nach Mobbing-Erlebnissen ihrer Kinder befragt; im Alter von zwölf Jahren äußerten sich auch die Zwillinge selbst dazu.

Dabei galten anhaltende verbale Hänseleien ebenso als Mobbing wie Ausgrenzung, böse Gerüchte und körperliche Gewalt. Den Müttern zufolge wurden etwa 17 Prozent der Zwillinge schikaniert, von den Kindern selbst erlebten dies nur elf Prozent so.

In jedem Fall waren von den 62 Kindern, die sich in ihrem 12. Lebensjahr schließlich selbst verletzten, überproportional viele zuvor Opfer von Häme und Gewalt gewesen - nämlich mehr als die Hälfte. Zudem fügten sich die Zwillingskinder, die nach Angaben ihrer Mütter gehänselt wurden, viermal so häufig Schmerzen zu wie ihre Geschwister.

Mobbing könne extrem schädliche Folgen für manche Kinder haben, warnen die Wissenschaftler um Helen Fisher vom King's College London deshalb. Manche Kinder entwickeln wegen der Hänseleien offenbar eine so kritische Selbstsicht, dass sie sich dann mit ihrer Gewalt gegen den eigenen Körper bestrafen.

Allerdings ist die Selbstverletzung nicht zwingend eine Folge von Mobbing. Es sei nicht auszuschließen, dass beide Erscheinungen nur dieselben Ursachen haben, so Fisher: Wer seelisch so labil ist, dass er sich Schmerzen zufügt, der wird womöglich auch leicht zum Außenseiter.

Irgendwann in seiner Schulzeit wird etwa jedes vierte Kind von anderen Kindern gequält. Auch wenn Selbstverletzungen unter den Betroffenen häufiger sind, verletzen sich die allermeisten gemobbten Schüler aber nicht, betont Fisher. Gleichwohl sollten Hänseleien nicht als Teil des schulischen Lebens hingenommen werden. Interventionen seien ebenso nötig wie Hilfsangebote für die gequälten Kinder, die oft einfach nicht wissen, wie sie mit den Attacken umgehen sollen.

Die Selbstverletzung sei meist eine Bewältigungsstrategie, sagt der Kinderpsychiater Gerd Lehmkuhl von der Universität Köln. Sie helfe, unerträgliche emotionale Spannungszustände zu beenden: "Der körperliche Schmerz ist dann besser zu ertragen als das seelische Leiden."

© SZ vom 27.04.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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