Mobbing in der Schule:Der Feind in meiner Klasse

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Schlagen, hänseln, ignorieren: Schulen sind Schauplätze brutaler und subtiler Kleinkriege. Studien zeigen, dass fast jedes Kind zum Mobbingopfer seiner Mitschüler werden kann - und was Eltern und Lehrer dagegen tun sollten.

Tanjev Schultz

Sie haben Angst vor der Pause. Während ihre Mitschüler dem Ende des Unterrichts entgegenfiebern, steigt in vielen Kindern Panik auf. Solange der Lehrer im Raum ist, sind sie halbwegs geschützt. Doch sobald er fort ist, kann es jederzeit wieder losgehen: die fiesen Kommentare, die Rempeleien. "He, Hässliche!" und "Hallo, Brillenschlange!" wurde Anna Meyer in der Grund- und Realschule gerufen. Ihr wurde auf den Kopf gespuckt, die Mitschüler tuschelten hinter ihrem Rücken oder behandelten sie wie Luft. Jahrelang gehörte Anna zur stummen Schar der Opfer. Zu denen, die dauernd Angst haben - erst vor den Pausen, dann vor der Schule und irgendwann vor dem ganzen Leben.

Mädchen mobben subtiler als Jungen: Sie grenzen aus und lästern, statt zu raufen. (Foto: Foto: iStockphoto)

nna, die ihren richtigen Namen lieber nicht hier lesen möchte, fühlte sich hilflos und unsagbar allein. "Ich konnte nicht mehr schlafen und habe wenig gegessen", sagt die 15-Jährige. "Die Mobber wissen gar nicht, was sie anrichten." Tausende Schüler in Deutschland sind von Mobbing betroffen. Wissenschaftler der Universität Koblenz-Landau haben im vergangenen Jahr im Internet fast 2.000 Schüler befragt. 54 Prozent gaben an, schon einmal Opfer von Mobbing gewesen zu sein.

Einsame Flucht

Die Umfrage war allerdings nicht repräsentativ, und in ihrem Bericht bitten die Wissenschaftler darum, aus den Daten keine "Sensationen" zu machen. Aber bedenklich seien die Zahlen dennoch, sagt der Studienleiter Reinhold Jäger. Die Schulen dürften das Thema nicht ignorieren. Schätzungen zufolge liegt der Anteil der Schüler, die regelmäßig schikaniert werden, zwischen fünf und elf Prozent. Mechthild Schäfer, Psychologin an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität und eine der wenigen deutschen Experten zum Thema, sagt sogar, jeder siebte Schüler sei von Mobbing betroffen.

In ihren Studien befragt Schäfer immer wieder Kinder und Jugendliche mithilfe eines Erhebungsrasters, das international eingesetzt wird, um Mobbing zu messen. Zwar kann es vorkommen, dass die Schüler in ihren Antworten übertreiben. Für Psychologen wie Schäfer zählt aber auch das subjektiv wahrgenommene Leiden.

Mobbing ist eine besondere Form der körperlichen und verbalen Gewalt. Die Täter schikanieren ein unterlegenes Opfer regelmäßig und über eine längere Zeit. In der Forschungsliteratur ist der Ausdruck "Bullying" ("bully" bedeutet im Englischen brutaler Kerl, Tyrann) weiter verbreitet als Mobbing, das sich von der Gruppe, dem "Mob", ableitet. Neben körperlicher Gewalt und Sachbeschädigung nutzen die "Bullies" mehr oder weniger subtile Methoden, die Eltern und Lehrer oft nicht mitbekommen: Hänseleien, Bedrohungen und Erpressungen, üble Nachrede oder systematisches Ignorieren.

Mobbing taucht in Gruppen auf, deren Mitglieder sich immer wieder begegnen. Schulklassen sind "Zwangsgemeinschaften", sagt Herbert Scheithauer, Psychologieprofessor an der Freien Universität Berlin. Die Opfer können sich nicht entziehen. In ihrer Not können sie zwar irgendwann die Klasse oder gleich die Schule wechseln. Aber dann jubeln die Täter. Und manchmal setzt sich das Leiden der Opfer anderswo fort. Die Rollen sind mitunter sehr stabil. So wie bei Anna Meyer.

Das Mädchen aus Norddeutschland hat schließlich die Schule gewechselt und besucht jetzt ein Gymnasium. Es sollte ein neuer Anfang werden. Doch das Mobbing hat sie verändert, hat sie schüchterner gemacht und zweifelnder. Auch in der neuen Klasse fand sie zunächst keinen Anschluss. "Wieder wurde ich zum Außenseiter", sagt Anna, die jetzt in psychologischer Behandlung ist. "Man darf aber nicht nur die unmittelbaren Täter und Opfer in den Blick nehmen", erklärt Scheithauer.

Die gesamte Gruppe bilde ein System, in dem jeder, auch der scheinbar Unbeteiligte, eine Rolle spiele. Es gibt Assistenten, die dem Täter helfen und Verstärker, die das Treiben unterstützen. Es gibt Außenstehende, die sich zurückziehen und schweigen. Und glücklicherweise gibt es immer wieder Verteidiger, die dem Opfer helfen.

In der Forschung werden Schüler nicht nur dazu befragt, welche Erfahrungen sie selbst mit Mobbing gemacht haben. In vielen Studien sollen sie auch ihren Mitschülern bestimmte Verhaltensweisen zuordnen. So machen sich Psychologen ein Bild von der Rollenverteilung in Klassenverbänden. Das Ergebnis der Studien: Mobbing beschränkt sich nicht auf bestimmte Schichten oder Schulen. Es kann jeden treffen, der in eine Position der Schwäche gerät. Es sei schwierig, von bestimmten Opfertypen zu sprechen, sagt Scheithauer. Einige Merkmale erhöhen jedoch die Wahrscheinlichkeit, Opfer zu werden: So erleiden Jungen körperliche Gewalt häufiger als Mädchen. Sie sind aber auch öfter Täter.

(Foto: N/A)

Mit dem Alter wird das Mobbing subtiler

Ein Forschungsteam um Martha Putallaz, Psychologin an der Duke University in Durham, kam bei einer Befragung amerikanischer Viertklässler zu dem Ergebnis, dass Mädchen eher zu verdecktem Mobbing neigen, sie lästern und grenzen aus. In Deutschland ist nach Daten des Bundesverbands der Unfallkassen die Rate sogenannter Raufunfälle bei Jungen mehr als doppelt so hoch wie bei Mädchen.

Der Verband registriert alle Verletzungen von Schülern, die aus Prügeleien herrühren und in deren Folge die Lehrer einen Arzt rufen müssen. Im Jahr 2003 wurden bundesweit rund 93 000 Raufunfälle gemeldet, besonders häufig betroffen ist die Gruppe der elf- bis 15-jährigen Jungen an Hauptschulen. Zwischen 1993 und 2003 ist die Zahl der gemeldeten Prügeleien in der Statistik der Unfallkassen leicht gesunken.

Neuere Daten aus Großstädten weisen jedoch in eine andere Richtung. In Berlin stieg die Zahl der gemeldeten Gewaltvorfälle an Schulen zwischen 2005 und 2006 um 76 Prozent. Das ist vermutlich auch darauf zurückzuführen, dass die Pädagogen seit der Debatte über Gewalt an der Berliner Rütli-Schule aufmerksamer sind und mehr Vorfälle melden.

Außerdem sind die Opfer meist schüchtern und zurückhaltend - Charakterzüge, die durch das Mobbing noch verstärkt werden können. Entscheidend ist jedoch weniger das angebliche "Wesen" eines Schülers, sondern vielmehr die soziale Position, die ihm in der Gruppe zugewiesen wird. "Ein Kind kann in der einen Klasse glücklich sein, in einer anderen aber zum Opfer werden", sagt Mechthild Schäfer.

"Ich gab mir die Schuld"

Entscheidend ist dabei oft die Situation: Wer zum Beispiel neu in eine Klasse kommt, wird leicht in die Opferrolle gedrängt. Und Schüler mit schlechten Noten werden eher belästigt als sehr gute Schüler. Dies zeigen Studien der Soziologen Siegfried Lamnek und Jens Luedtke von der Katholischen Universität Eichstätt, die über mehrere Jahre hinweg die Gewaltentwicklung an bayerischen Schulen untersucht haben. Doch gute Noten sind keine Garantie, von Mobbing verschont zu bleiben. Anna Meyer musste sich auf der Realschule als "Streberin" beschimpfen lassen. Lange Zeit machte sie sich selbst Vorwürfe. "Ich gab mir die Schuld und dachte, die anderen haben das Recht, mich so zu behandeln."

Statt zu rebellieren, zog sich Anna immer mehr zurück. Sie traute sich kaum noch allein aus dem Haus: "Ich wurde richtig depressiv." Viele Opfer langjährigen Mobbings leiden unter psychosomatischen Störungen: Kopfund Bauchschmerzen, Rückenleiden, unruhigem Schlaf. Besonders verbreitet sind Depressionen, wie die britischen Forscher David Hawker und Michael Boulton in einer Metaanalyse vorliegender Studien gezeigt haben. Doch in seltenen Fällen kann sich der Druck auch nach außen entladen. Dann reagieren Mobbingopfer selbst mit einem Gewaltausbruch.

Amokläufer, die in Schulen ein Blutbad anrichten, waren in der Klasse oft Außenseiter. Ein Team um den Psychologen Mark Leary von der Duke University hat die Hintergründe von 15 Schießereien an amerikanischen Schulen untersucht. Nur in zwei Fällen fanden die Forscher keine Hinweise darauf, dass die Täter zuvor unter Mobbing gelitten hatten.

Und das Feld der Gewalt weitet sich aus. Gemobbt werden Schüler nicht mehr bloß im Klassenzimmer und auf dem Schulweg. Sorgen bereitet Polizei und Pädagogen zunehmend das "Cyberbullying". Dabei nutzen die Täter ihr Handy oder das Internet. Sie filmen Übergriffe, zeigen die Bilder herum und versenden sie an Mitschüler, wodurch das Opfer zusätzlich gedemütigt wird. Sie lästern im Internet und verbreiten Verleumdungen via SMS.

Eine Studie der Sozialpsychologin Catarina Katzer von der Universität Köln, für die 1.00 Schüler befragt worden sind, hat ergeben, dass die Täter, die sich des Internets bedienen, meist die gleichen sind, die auch sonst als "Bullies" in der Schule auftreten. Während in den ersten Klassen noch die direkte Gewalt dominiert, werden die Methoden mit zunehmendem Alter der Schüler subtiler.

Besonders gerissen sind Täter, die selbst den Vorwurf erheben, gemobbt zu werden. Manche "Bullies" seien aggressiv, zugleich aber sehr zuvorkommend Erwachsenen gegenüber, sagt Mechthild Schäfer. Ungefähr von der dritten Klasse an sind Schüler in ihrer Entwicklung so weit, dass sie mit den sozialen Erwartungen der anderen spielen und sie manipulieren können.

Gemeinsame Lösung

In der Mobbingforschung gibt es zwei Thesen über das Profil solcher Täter: Die Defizitannahme besagt, dass Bullies sozial inkompetent sind. Die Kompetenzthese dagegen lautet: Sie sind ihren Mitschülern soziokognitiv überlegen, also besonders geschickt und auffassungsschnell im Umgang mit anderen.

Studien bestätigen eher die Kompetenzthese, zumindest für Kinder, die sieben Jahre und älter sind. Der italienische Psychologe Gianluca Gini von der Universität Padua hat die soziale Intelligenz von mehr als 200 Acht- bis Elfjährigen untersucht und mit ihren Rollen beim Mobbing verglichen. Ergebnis: "Bullies" sind meist in der Lage, sich in andere hineinzuversetzen, ihre soziale Intelligenz ist bemerkenswert hoch. Es fehlt ihnen aber an Empathie für die Opfer. Lehrer sind daher oft überrascht, wenn sie hören, dass ein Schüler seit Langem drangsaliert wird und wer zu den Tätern zählt. Vor allem subtile Formen des Mobbings können den Pädagogen leicht entgehen.

"Viele Lehrer erlauben sich zudem immer noch, nicht so genau hinzuschauen", beklagt Mechthild Schäfer. Nun wollen Psychologen Abhilfe schaffen. Sie haben Präventionsprogramme entwickelt, die dauerhaft verhindern sollen, dass Schüler schikaniert werden. Dabei geht es darum, ein soziales Klima zu schaffen, in dem jeder, der einen Schwächeren angreift, die Anerkennung aller anderen verliert. "Die Lehrer müssen sensibel sein für das soziale Gefüge einer Klasse", sagt Mechthild Schäfer. Mobbing sei eben nicht die Sache Einzelner, sondern spiegele die Hierarchie in einer Klasse wider.

Deshalb reiche es nicht, bekannt gewordene Regelverstöße zu ahnden. Lehrer müssten genau hinschauen, welche Positionen und Rollen ihre Schüler in der Klasse einnehmen. So wie zum Beispiel Andrea Mex. In ihrer fünften Klasse der Anna-Freud-Schule in Köln hat die Lehrerin Mobbing zum Thema gemacht. Die Schüler hatten einem Neuling die kalte Schulter gezeigt. "Dadurch bin ich selbst sensibilisiert worden. Und ich habe zunächst meine Ohnmacht gespürt", sagt Mex.

"Wir haben Mist gebaut"

Sie entschloss sich, Mobbing im Unterricht zu behandeln. Die Klasse nahm an einer Anti-Mobbing-Aktion des Kinderhilfswerks und des Internetprojekts "Seitenstark" teil. Die Schüler drehten einen Film: über Klaus, einen dicken, oft gehänselten Jungen. Vor dem Schwimmunterricht zerren ihn zwei Mitschüler mitsamt Kleidung unter eine kalte Dusche. Die Bilder laufen in Schwarz-Weiß. Anschließend wiederholt der Film die Szene in Farbe. Diesmal schreitet ein Junge ein, eine Mitschülerin wird alarmiert und holt den Lehrer zu Hilfe. Im Klassenkreis schildert Klaus, wie er unter der Hänselei leidet, und die Täter entschuldigen sich.

Mit dem Film gewannen die Schüler der Anna-Freud-Schule nicht nur einen Preis. "Sie sagen jetzt auch: Wir haben Mist gebaut, als wir den Neuen gemobbt haben", berichtet Andrea Mex. Auch Anna Meyer hat auf ihre Lehrer gesetzt. Doch als sie sich offenbarte, stellte sich die Lehrerin am nächsten Tag vor die Klasse und verlangte, Anna in Ruhe zu lassen. In den folgenden Wochen wurde alles nur schlimmer. Als Anna nach ihrem Schulwechsel wieder in die Außenseiterrolle geriet, wagte sie es dennoch, ihren neuen Lehrer anzusprechen.

Er reagierte besonnen und hilft nun, Annas Position in der Klasse zu stärken. Die Mitschüler sollten neue Seiten an ihr kennenlernen: Die Lehrer schafften es, sie zu überreden, im Musikunterricht vorzusingen. Anna ist eine sehr gute Sängerin. "Das hat meine Mitschüler wohl beeindruckt", sagt sie. Schon jetzt hat die Zehntklässlerin jedoch wieder Angst - vor dem nächsten Schuljahr. Denn in der elften Klasse werden die Schüler neu gemischt. Anna sagt: "Da kann alles wieder von vorn anfangen."

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