Die Frage, ob der allabendliche Rotwein der Gesundheit dient, treibt Wissenschaftler bis heute um. Nicht einfacher ist zu beantworten, ob die ein bis drei Gläschen Merlot, wenn schon nicht gesund, so wenigstens harmlos sind.
Denn die Fachgesellschaften verschiedener Länder interpretieren erstaunlich unterschiedlich, was als risikoarmer Konsum zu gelten hat. Als Wissenschaftler der Universität Sussex Anfang 2013 die Empfehlungen aus insgesamt 57 Ländern durchforsteten, stießen sie auf "eine bemerkenswerte Uneinigkeit darüber, was als mäßiger Alkoholkonsum gilt". Manche Länder geben überhaupt keine Werte an, einige nennen Maße, die weit von denen anderer entfernt sind. Ein Muster ist kaum zu erkennen.
So können sich Männer in den USA auch dann noch als moderate Konsumenten fühlen, wenn sie fast dreimal so viel trinken wie den Finnen zugestanden wird. Und wenn eine Slovenin vier mal mehr bechert, als Ärzte ihres Landes ihr erlauben, ist sie immer noch im Limit dessen, was in Mexiko und den USA als harmlos gilt.
Unterschiedlich wird ebenfalls interpretiert, ob Männer mehr als Frauen trinken dürfen. Die meisten Experten gehen davon aus, dass Frauen sensibler auf Alkohol reagieren und messen ihnen niedrigere Grenzwerte zu. Doch wieviel niedriger sie liegen, schwankt von Land zu Land.
Deutschland ist mit seiner aktuellen Definition der risikoarmen Tagesmenge vergleichsweise streng. Doch wer nun genau wissen will, wieviel er trinken darf, trifft auf praktische Schwierigkeiten. Denn die offiziellen Grenzwerte werden in Gramm reinem Alkohol angegeben. Frauen werden maximal zwölf Gramm, Männer 24 Gramm pro Tag zugestanden. Diese Werte gelten für den täglichen Konsum, wer mal darüber liegt, muss noch keine beginnende Sucht fürchten.
Wieviele Gläser Wein und Bier darf ich trinken?
Grob auf Getränke umgerechnet liegt die tägliche Höchstdosis für Frauen damit bei:
- 0,3 Litern Bier
- 0,15 Litern Wein
- 0,04 Litern Likör
- 0,03 Litern Whisky
Für Männer gelten demnach als Grenzwert:
- 0,6 Liter Bier
- 0,3 Liter Wein
- 0,08 Liter Likör
- 0,06 Liter Whisky
Über jeden Zweifel erhaben sind diese Umrechnungen freilich nicht. Denn der Alkoholgehalt von Bier, Wein oder Schnaps kann schwanken. Bei Likör beispielsweise variiert er zwischen 15 und 40 Prozent. Wer genaue Werte haben will, muss zu folgender Formel greifen: Man multipliziert die Menge des Getränks in Millilitern mit dem Alkoholgehalt und dem Faktor 0,8. Doch welcher Mensch in Feierlaune oder im abendlichen Entspannungsmodus müht sich mit Eichstrich-genauem Abfüllen und Algebra ab?
Und selbst wenn, bleiben weitere Unklarheiten. Darf die Tagesdosis tatsächlich die ganze Woche über ausgeschöpft werden oder sollten alkoholfreie Tage eingelegt werden? Um diese Frage zu beantworten, definieren die Experten einiger Länder zusätzlich eine Wochendosis - driften aber auch dabei weit auseinander. Mal entspricht die Wochenmenge der siebenfachen Tagesdosis, mal liegt sie deutlich darunter. Die Deutschen bleiben mit dieser Frage allein, eine offizielle Wochendosis gibt es nicht.
Angesichts der Unterschiede und Ungewissheiten muss man nicht am Stammtisch stehen, um sich zu fragen, wie ernst man die offiziellen Grenzwerte nehmen kann. Sind sie überhaupt wissenschaftlich fundiert? Die heterogenen Regelungen spiegeln letztlich die komplexen Wirkungen des Alkohols wider. Die Alltagsdroge ist an der Entstehung von Dutzenden Krankheiten beteiligt. Allein etwas 35 Leiden gehen ausschließlich auf das Trinken, dazu gehören Alkoholismus und das Fetale Alkoholsyndrom (FAS), das die Kinder von Müttern aufweisen können, die während der Schwangerschaft nicht von Wein und Bier ließen. Bei etwa 50 weiteren Erkrankungen von Krebs bis Demenz ist Alkohol ein Einflussfaktor unter mehreren.
Bei den meisten dieser Krankheiten steigt das Risiko mit der getrunkenen Menge. Bereits ab einer Dosis von 25 Gramm Alkohol pro Tag zeigt die Kurve leicht nach oben. Hier stellt sich die ethisch schwer zu entscheidende Frage, bis zu welchem Punkt man Risiken noch in Kauf nimmt; schließlich können allzu strenge Grenzwerte auch kontraproduktiv sein, weil sie an der gesellschaftlichen Realität vorbeigehen.
Noch komplizierter wird es, wenn man in die Tiefen der Statistiken einsteigt, und berücksichtigt, dass sich die Risikokurven ändern, je nachdem welche Bevölkerungsgruppe und welche Auswirkungen der Krankheit - bloßes Auftreten, ihre Schwere oder gar den Tod - man betrachtet. Bei der Abwägung all der Effekte gibt es einen Interpretationsspielraum, den die Fachgesellschaften der Länder unterschiedlich ausschöpfen - und dabei wohl auch die Häufigkeit bestimmter Krankheiten und Konsumgewohnheiten berücksichtigen.
So ist - gerade angesichts der schwer zu beziffernden Risiken - nur derjenige auf der sicheren Seite, der so wenig wie möglich trinkt. Nehmen Sie das kleinste für das jeweilige Getränk typische Glas. Frauen können ein Glas, Männer das Doppelte trinken.
Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie der Berliner Charité, rät zudem, mindestens ein bis zwei Tage pro Woche gar keinen Alkohol zu trinken. Alkoholfreie Tage sind allerdings kein Freibrief, am Wochenende umso heftiger zu zechen. Hoher gelegentlicher Konsum gilt als schädlicher als das regelmäßige Feierabendbier.
Wer sich an diese Empfehlungen hält, ist in der Regel sicher, so Andreas Heinz: "Aber 'in der Regel' heißt eben nur 'in der Regel'. Es gibt Menschen, die sind besonders empfindlich. Und man kann sich bereits mit relativ wenig Alkohol psychisch daran gewöhnen, den Stress wegzutrinken." Somit sind sich die Experten dieser Welt auch in diesem Punkt einig: Einen komplett risikolosen Alkoholkonsum gibt es nicht.