Selten hat sich ein Expertengremium so schnell und auf so traurige Weise in seiner eigenen Prognose bestätigt gesehen. 2018 setzten die Weltgesundheitsorganisation WHO und die Weltbank das unabhängige Global Preparedness Monitoring Board (GPMB) ein, das prüfen sollte, wie gut die Welt gegen Gesundheitskrisen gewappnet war. Sehr schlecht sei der globale Schutz, lautete das Fazit des ersten Berichts, den das Gremium 2019 herausgab: Eine Pandemie durch einen neuen Atemwegserreger könne die Welt schnell an ihre Grenzen bringen, hieß es darin, da war Sars-CoV-2 noch gar nicht bekannt. In ihrem Folgebericht 2020 musste das Team feststellen, in fast allen Punkten recht gehabt zu haben. Die Welt habe in der Pandemievorsorge kollektiv versagt. Nun ist der dritte Report erschienen - und er ist nicht minder düster.
Die Autorinnen und Autoren um den früheren Generalsekretär der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften, Elhadj As Sy, charakterisieren den Zustand der Welt mit dem Wort "kaputt". Im zweiten Pandemiejahr leide die globale Gemeinschaft mehr denn je unter Ungerechtigkeit, Spaltung sowie der Unverbindlichkeit ihrer Gesundheitspolitik. Und über der bitteren Bestandsaufnahme schwebt die Frage, die Sy während der Vorstellung des Berichtes auf dem World Health Summit in Berlin stellte: "Wenn wir so schlau sind, Ereignisse vorherzusagen, warum sind wir dann nicht schlau genug, sie zu verhindern?"
Pandemie:Ist das Land noch in einer Notlage oder nicht?
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Konkret kritisiert das Team zum einen die wachsende Kluft zwischen ärmeren und reichen Ländern. Sie umfasst alles, was im Kampf gegen das Coronavirus eine Rolle spielt, von Schutzkleidung über Tests, Sauerstoff und Personal bis hin zu den Impfstoffen. Während die reichen Länder spätestens seit dem Sommer genug Impfstoff für jeden Einwohner zur Verfügung haben - manche von ihnen sogar weit mehr - reicht der Schutz in vielen ärmeren Staaten bis heute nicht einmal für die Gefährdetsten. Noch im September waren in Afrika weniger als zehn Prozent aller Ärzte, Ärztinnen und Pflegekräfte geimpft, gab die WHO vor wenigen Tagen bekannt.
Zwar fehlt es nicht an Plänen und Initiativen für eine faire Impfstoffverteilung , doch hätten diese Anstrengungen ihr Ziel letztlich verfehlt, konstatiert der Bericht des GPMB: "Globale Solidarität bleibt ein bloßes Schlagwort".
Wirksame Mechanismen, um Länder zur Rechenschaft zu ziehen, fehlen
Die Autoren führen die Situation auf tief verwurzelte Missstände zurück. Globale Solidarität werde noch immer als ein Akt des guten Willens verstanden, und nicht als eine gemeinsame Antwort auf ein gemeinsames Problem. Solidarität ist demnach bloße Geste, nach Gutdünken geleistet, wenn es gerade opportun ist - und ohne jede Garantie. Dass die generösen Ankündigungen von Politikern tatsächlich umgesetzt werden, ist in keiner Weise gesichert.
Diese Haltung findet sich nicht nur bei einzelnen Regierungen, sondern beginnt bereits "ganz oben", wie die Autoren schreiben. Die UN-Vollversammlung, der Sicherheitsrat, die Weltgesundheitsversammlung, die G-7- und G-20-Teilnehmer - sie alle hätten über Wege aus der Pandemie diskutiert, und am Ende doch "kaum mehr als Absichtserklärungen" hervorgebracht. Einen Nachweis, dass diese Institutionen einen substanziellen Effekt auf den Verlauf der Pandemie hatten, können die Experten nicht finden.
Hinzu kommt die tiefe Spaltung in vielen Bereichen des Lebens. Man muss nur einen Blick in soziale Netzwerke werfen, um zu verstehen, was die Autoren meinen, wenn sie sagen: Covid-19 ist in einer polarisierten Welt ausgebrochen und seither haben sich die Gräben noch vertieft. Das gilt auch für die globale Bühne: "Polarisierung, geopolitische Konflikte, Nationalismus und Skepsis gegenüber dem Multilateralismus haben dazu geführt, dass viele Länder die Zugbrücke hochziehen, anstatt nach globalen Lösungen zu suchen", heißt es in dem Bericht. Auch die Hilfsbemühungen sind fragmentiert, mit verschieden Akteuren, die sich auf verschiedene Weise in verschiedenen Bereichen engagieren.
"Die Welt erlebt immer wieder den gleichen Kreislauf aus Panik und Vergessen."
Ausgehend von diesen Beobachtungen legt das Autorenteam sechs Vorschläge für den künftigen Umgang mit Gesundheitskrisen vor. Sie fordern zum einen ein verbindliches internationales Abkommen für Notlagen unter dem Dach der WHO. Die WHO ihrerseits müsse gestärkt werden - mit mehr Ressourcen, Autorität und der Möglichkeit, Mitgliedsländer zur Rechenschaft zu ziehen. Eine unabhängige Einrichtung solle die Einhaltung des Abkommens überwachen.
Die Finanzhilfen für Notsituationen sollten nicht mehr allein aus den vielen Töpfen verschiedener und schlecht koordinierter Organisationen kommen, sondern durch einen fairen globalen Mechanismus gesteuert werden. Er könnte beispielsweise bei der Weltbank angesiedelt sein, schlagen die Experten vor. Auch für den Austausch von Daten, Erkenntnissen und Laborproben sowie für die Verteilung von prophylaktischen und therapeutischen Mitteln brauche es eine zentrale Steuerung, die klaren, an der Gerechtigkeit orientierten Prinzipien folgt. Schließlich sollten die Zivilgesellschaft und der Privatsektor besser in die Vorsorge und Bekämpfung von Epidemien einbezogen werden. Damit könnten unter anderem die Kommunikation verbessert und Falschinformationen rechtzeitig korrigiert werden.
Das sind alles keine revolutionären Vorschläge. "Es sind alte, nie verwirklichte Forderungen", sagt WHO-Generalsekretär Tedros Adhanom Ghebreyesus und warnt davor, erneut eine Chance für deren Umsetzung verstreichen zu lassen. Denn einmal mehr zeigt sich ein altbekanntes Phänomen, wie auch Mitautorin Ilona Kickbusch vom Genfer Institut für internationale Studien und Entwicklung sagt: "Die Welt erlebt immer wieder den gleichen Kreislauf aus Panik und Vergessen." Und schon jetzt sei zu befürchten, dass die Welt sich erneut dem Stadium des Vergessens nähert. Die Aufmerksamkeit beginne bereits, sich anderen Themen zuzuwenden, der Elan schwinde, ergänzt Sy. Mancherorts hält man die Pandemie bereits für beendet.
"Es ist leicht, zynisch zu werden", sagt Elhadj As Sy. Eines aber ist für ihn klar: "Wir werden wieder und wieder mit schockierenden Ereignissen und Gefahren konfrontiert werden, sei es in Bezug auf die Gesundheit oder das Klima. Ob sie sich zur Katastrophe ausweiten, hängt von unserer Vorsorge ab." Noch stehe das Fenster für eine echte Wende offen. Denn akute Krisen bieten die einzige Chance für umfassende Veränderungen, betont Jeremy Farrar, Mitautor des Berichts und Leiter des britischen Wellcome Trusts: "Doch wenn wir diese Krise nicht nutzen, wann handeln wir dann?"