Ihre Hände, sie wollten plötzlich nicht mehr. Als ob jemand ihren Muskeln heimlich alle Energie geraubt hätte, verlor Barbara Böhm an Weihnachten vergangenen Jahres ihre Kraft. Knöpfe konnte sie nicht mehr schließen, ihre Schnürsenkel nicht mehr binden. "Mein Mann musste mir beim Ankleiden helfen, so hilflos war ich", sagt die 67-jährige Patientin aus Langenhagen bei Hannover.
Sie hatte ihre Therapie wegen einer Infektion zweimal verschieben müssen, statt des üblichen Intervalls von vier Wochen waren seit der letzten Sitzung fast zwei Monate vergangen. Dann endlich konnte sie wieder zur Medizinischen Hochschule in Hannover (MHH) fahren, um ihre Behandlung zu erhalten: Eine Infusion mit Antikörpern, sogenannte Immunglobuline vom Typ G. Aufgewühlt wartete die sonst so gefasste Frau das Ende der Therapiesitzung ab. Würde die Kraft zurückkehren? Schon am nächsten Tag konnte sie aufatmen - ihre Hände machten wieder besser mit. "Seither weiß ich, wie lebenswichtig die Behandlung für mich ist", sagt Böhm.
Barbara Böhm leidet an einer chronisch fortschreitenden Nervenerkrankung, der sogenannten CIDP. Fehlgeleitete Immunzellen, so vermuten Experten, zerstören dabei die Hüllen der Nervenbahnen, sodass die Weiterleitung der Nervenimpulse nicht mehr richtig funktioniert. Seit zehn Jahren ist eine Antikörper-Therapie zur Behandlung dieser und ähnlicher Leiden in Europa zugelassen. Diese Nervenerkrankungen stellen ein großes neues Einsatzgebiet der Immunglobuline dar, zusätzlich zu den Immunschwächen, die seit den 1960er-Jahren damit behandelt werden. "Der Bedarf ist daher in den vergangenen Jahren stark angestiegen," sagt Neuroimmunologe Martin Stangel von der Medizinischen Hochschule Hannover.
2018 wurden mehr als sechs Millionen Liter Plasma aus den USA nach Deutschland importiert
Kam die Antikörper-Therapie früher vor allem in den USA, Kanada und Westeuropa zum Einsatz, können sich die teure Behandlung inzwischen auch aufstrebende Länder aus dem Nahen Osten oder Lateinamerika leisten. Das Problem dabei: Antikörper können nicht künstlich hergestellt werden. Sie stammen aus dem Blutplasma von Menschen, die sich zu einer Spende entschlossen haben. Die Anzahl der Plasmaspender stagniert in Deutschland aber seit Jahren, auch andere EU-Länder tun sich schwer, Menschen zu einer Spende zu bewegen. "Blutplasma ist ein rares Gut", sagt Stangel. Daher ist auch die Menge an Medikamenten begrenzt, die sich daraus herstellen lassen. Und Kliniken in Deutschland wie in anderen Ländern ringen zunehmend darum, genügend Präparate für ihre Patienten zu erhalten.
Nur eine Handvoll Firmen dominieren den Markt, sie gewinnen einen Großteil des weltweit verfügbaren Blutplasmas in den USA und lassen daraus in Produktionsanlagen Medikamente wie besagte Antikörper-Infusionen herstellen. Wie sich die EU auf diesem umkämpften globalen Markt künftig positionieren soll, haben Experten des Europarats wie der Europäischen Kommission mit Vertretern von Blutspendezentren und Plasmaunternehmern im Januar 2019 diskutiert. Die daraus entstandenen Empfehlungen sollen in den kommenden Wochen erstmals veröffentlicht werden.
Wie Ärzte und Patienten in Deutschland und anderen EU-Ländern die Medikamentenknappheit bislang erleben, haben Reporter von SWR, NDR und Süddeutscher Zeitung recherchiert. "Es ist klar, dass etwas geschehen muss", sagt Paul Strengers, ehemaliger medizinischer Leiter der Abteilung für Plasmaprodukte des niederländischen Blutinstituts Sanquin.
Allein im vergangenen Jahr stiegen die Preise um etwa 30 Prozent
Im Jahr 2018 wurden mehr als sechs Millionen Liter Plasma aus den USA nach Deutschland importiert. Im Jahr 2000 waren es noch 640 000 Liter. Im Gegensatz zu den USA unterliegen die deutschen Plasmaspendezentren besonders strengen Auflagen: "Hier muss sich ein Arzt vor Ort jeden Plasmaspender ansehen", sagt Marcell Heim, langjähriger Vorstand der Arbeitsgemeinschaft Plasmapherese, der Interessenvertretung von aktuell 92 Plasmaspendezentren in Deutschland. Im Unterschied zu den USA kümmere sich auch stets eine Pflegekraft um die Apparaturen, sagt Heim, was zusammen genommen die Gewinnung hier wesentlich teurer macht.
Das importierte Plasma wird dann teilweise zusammen mit dem hier gewonnenen Rohstoff von den Pharmafirmen weiterverarbeitet, um daraus zum Beispiel die Immunglobuline für Medikamente zu gewinnen. Ein Teil der Arzneimittel wird wieder in die USA exportiert, der andere kommt in Europa auf den Markt.