EZB-Präsident Mario Draghi:Ein Prediger zieht um

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Mario Draghi ist der dritte Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB). Unter ihm zieht die Institution nach 14 Jahren um. (Foto: Bloomberg)

14 Jahre lang hat die Europäische Zentralbank im Eurotower Pressekonferenzen abgehalten. Anfang des Monats war dort die letzte. Die Hüter des Euro bekommen eine neue Heimat.

Von Markus Zydra, Frankfurt

Spürt Mario Draghi einen Hauch von Wehmut? Wenn ja, dann verbirgt er das sehr gut in seinem Pokergesicht. Der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) tritt als erster durch die dicke schallgeschützte Tür. Dahinter folgen der Bodyguard, der EZB-Vizepräsident Vítor Constâncio und die Pressesprecherin.

Die Journalisten im Raum CIV des Frankfurter Eurotowers kennen die Choreografie. Gleich wird der Tross aufs Podium hinter den Tisch mit den Namensschildern steigen, und die Apparate der Fotografen machen in Sekundenbruchteilen Abertausende Male klick, klick, klick klick. Direkt gegenüber am anderen Ende des Raums sind die Plätze für Technik und Dolmetscher. Dicke grüne Vorhänge vor den Fenstern verbergen den Blick auf die Städtischen Bühnen in Frankfurt. Man will für sich bleiben. Draghi im dunklen Anzug verbeugt sich leicht, lächelt und bedeutet: Das reicht. Ruhe kehrt ein. Der Italiener verliest am 6. November seine Erklärung, in der er deutlich macht, dass die EZB eine Billion Euro in das Finanzsystem pumpen will. Hinterher dürfen Journalisten dann ihre Fragen stellen.

Geht in diesen Tagen die erste Epoche des Euro zu Ende?

Auch diese jüngste Pressekonferenz der EZB folgte ihrem ritualisierten Muster. Doch dieses Mal fand sie nach gut 14 Jahren zum letzten Mal statt in diesem Gebäude und in diesem Saal. Die EZB zieht um in den Frankfurter Osten. Die Hüter des Euro haben eine neue Heimat. Vielleicht wird man später sagen, dass in diesen Novembertagen die erste Epoche der Europäischen Gemeinschaftswährung zu Ende gegangen ist.

In Büchern kann man die Fakten zur Geschichte des Euro nachlesen. Im bargeldlosen Zahlungsverkehr wird er seit 1. Januar 1999 verwendet. Die Münzen und Banknoten kamen drei Jahre später. Die EZB soll den Wert der Währung stabil halten. So stabil wie einst die D-Mark. In der Finanzkrise profilierte sich die Institution zum Retter der Eurozone. Doch hier, in diesem mit mattem Neonlicht beleuchteten Saal, ist die Geschichte des Euro in den vergangenen 14 Jahren Monat für Monat fortgeschrieben, weitererzählt und infrage gestellt worden. Fast in Echtzeit.

Die EZB war die erste Notenbank weltweit, die unmittelbar nach dem Treffen ihrer Notenbankchefs und Direktoren, in einer Pressekonferenz ihre Entscheidungen erläuterte. Das hatte es zur Jahrtausendwende noch nicht gegeben im ebenso elitären wie verschwiegenen Zirkel der Währungshüter. Die neue EZB ging das frisch an. Transparenz sollte Vertrauen in die neue Währung schaffen.

Wenn Draghi redet, klingt alles furchtbar kompliziert

Die EZB entscheidet am Vormittag jedes ersten Donnerstags im Monat über ihre Leitzinsen und Rettungsmaßnahmen. Wenig später, von 14.30 Uhr bis 15.30 Uhr, gibt der EZB-Präsident zu den Beschlüssen eine schriftlich ausformulierte Erklärung ab. Dann dürfen die Journalisten fragen.

Jean-Claude Trichet, der Vorgänger Draghis, suchte sich die Fragesteller selbst aus, indem er mit dem Zeigefinger in die Stuhlreihen zeigte. Manchmal fühlten sich mehrere Kollegen vom Franzosen gleichzeitig angesprochen. Wim Duisenberg, der verstorbene erste EZB-Präsident, wurde einmal gefragt, wie er die Konjunktur in der Eurozone einschätze. Da sagte der stets unverblümt formulierende Niederländer. "Lesen Sie, was ihr Kollege geschrieben hat. Ich könnte es nicht besser erklären." Manchmal lief vor Beginn der Pressekonferenz im Saal CIV das Lied "Money for nothing" (auf deutsch: Geld für nichts) von der britischen Band Dire Straits. Der Titel mutet wie die perfekte landläufige Beschreibung von Geldpolitik an. Doch wenn Draghi und Kollegen reden, klingt das alles sofort furchtbar kompliziert. Es sind Sätze für die Finanzwelt. Die Übertragung der Pressekonferenz im Internet verfolgen Börsenprofis weltweit. Jedes Wort des EZB-Präsidenten kann die Preise bewegen. In den schlimmsten Tagen der Finanzkrise schauten auch die Regierungschefs zu.

" Es ist der wichtigste Termin. Diese monatliche Pressekonferenz hat etwas Religiöses. Die gesamte europäische Finanzwelt analysiert Wort für Wort, was der EZB-Präsident sagt", bescheibt Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING Diba, die allmonatliche Exegese des geldpolitischen Evangeliums: Notenbanker reden nicht. Sie verkünden in verklausulierter Sprache die Senkung des Leitzinses und die Vergabe von Milliardenkrediten. Man fühlt sich mitunter an eine Kirchenpredigt erinnert. "Es ist ein Spiel. Man versucht zu begreifen, wie der EZB-Präsident jedes Mal versucht, die Märkte zu beeinflussen", sagt Brzeski. Der frühere amerikanische Notenbankchef Alan Greenspan hat einmal gesagt: "Wenn Sie glauben, mich verstanden zu haben, habe ich mich nicht unverständlich genug ausgedrückt." Die EZB-Kollegen Duisenberg, Trichet und Draghi haben es auch so gehalten. Es vergeht keine Pressekonferenz, ohne dass Draghi sagt, die EZB wolle die Inflationsrate im Euroraum "nahe, aber unter" zwei Prozent halten. Wo genau, das bleibt offen. So ist es häufig im Notenbankjargon: Immer irgendwo zwischen verbindlich und vage.

Über Trichet erzählte man sich, er habe die Kernbotschaft der EZB immer in die Antwort auf die zweite Frage der Journalisten gepackt. "Egal wie die Frage lautete, Trichet ging nicht darauf ein und gab den Märkten stattdessen Hinweise darauf, wie die EZB denkt. Mit Schlüsselworten", so Brzeski. Manchmal schimpfte der Franzose auch, am 8. September 2011 etwa: Damals maulten deutsche Politiker, die EZB verkomme zur Bad Bank. Trichet konterte mit hyperventilierender Stimme, die EZB, wäre "untadelig" bei der Erhaltung des Geldwerts, sogar besser, als es die Bundesbank je gewesen wäre.

Das Statement wird stets wörtlich abgelesen - sonst gibt es Ärger

Die EZB-Präsidenten Duisenberg, Trichet, Draghi - alle haben das etwa 15-minütige Statement am Anfang stets Wort für Wort abgelesen. Schließlich war es exakt so mit den EZB-Kollegen vereinbart worden. Jede Abweichung würde Ärger im Gremium nach sich ziehen. Es passiert häufig, dass Draghi Fragen der Journalisten beantwortet, indem er Teile des schriftlichen Statements erneut verliest.

Die wichtigste Entscheidung in der Geschichte der EZB hat wohl Draghi getroffen. Das geschah allerdings nicht in Frankfurt. Es war im Juli 2012, als er versprach, die EZB werde alles tun, um den Euro zu retten. "Früher, bei Trichet und Duisenberg, wurden die wichtigen Entscheidungen im Rat besprochen und dann in der Pressekonferenz erläutert", sagt Stefan Bielmeier, Chefvolkswirt der DZ Bank. Heute sei alles mehr auf den Präsidenten Draghi zugeschnitten. " Jede Rede Draghis kann potenziell wichtige Entscheidungen der EZB vorwegnehmen. Der Rat entscheidet dann noch die Details zum bereits angedeuteten großen Plan", so Bielmeier. Die Pressekonferenz sei eine "Erwartungserfüllungsveranstaltung" geworden.

Abschied vom Eurotower

Nun der Umzug der Geldpolitiker. Die EZB hat den Eurotower Mitte der 1990er-Jahre übernommen. Vorher war das 140 Meter hohe Gebäude im Besitz der gewerkschaftseigenen Bank für Gemeinwirtschaft (BfG). Im Stockwerk des Pressesaals befand sich zu BfG-Zeiten ein Einkaufszentrum mit direktem Zugang zur U-Bahn. Die Renovierungsarbeiten im Auftrag der EZB zogen sich hin. Die ersten Pressekonferenzen hielten die EZB und ihre Vorgängerinstitution, das Europäische Währungsinstitut (EWI), ab 1995 in einem Frankfurter Hotel sowie bei der Industrie- und Handelskammer ab. Erst am 8. Juni 2000 eröffnete EZB-Präsident Wim Duisenberg zum ersten Mal im Saal CIV die Pressekonferenz im zweiten Stock des Eurotower.

An jenem Tag im Jahr 2000 erhöhte die Europäische Zentralbank den Leitzins auf 4,25 Prozent. Sie wollte den Euro stärken. Heute liegt der Leitzins bei 0,05 Prozent, und Draghi möchte den Euro schwächen. Die Welt, in der die EZB ihre Geldpolitik macht, hat sich stark verändert. Nur der Saal CIV sieht noch fast so aus wie vor 14 Jahren, einzig die dunklen Flecken auf dem rostbraunen Teppich erzählen von seiner langen Geschichte.

Draghi beendet seine letzte Pressekonferenz im Eurotower zehn Minuten früher als sonst. Er hat es eilig und verlässt den Raum - wie immer - durch die hintere Tür. Anfang Dezember empfängt der Italiener wieder: in einem anderen Gebäude und dann im fünften Stock.

© SZ vom 11.11.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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