Urlaub:Kinder sollen in den Ferien Zeit verschwenden

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Kinder spielen an der Ostsee. In den Ferien brauchen sie Raum für sich, sagen Pädagogen. (Foto: dpa)

Im Urlaub brauchen Kinder Raum für sich selbst, mahnen Pädagogen. Eine Selbstverständlichkeit? In Zeiten der ständigen Optimierung des Nachwuchses leider nicht. Ein Plädoyer für das Loslassen.

Kommentar von Susanne Klein

Die besten Sommerferien sind die, von denen Kinder noch träumen, wenn sie längst erwachsen sind. Das Kind im Erwachsenen reist dann zurück an einen Sehnsuchtsort. Oft ist er eine vage Mischung, in ihm verschmelzen Omas Garten mit sandigen Ferienunterkünften und der Straße, in der man zu Hause war; man darf lange schlafen, isst Stachelbeertorte mit Sahne, und irgendwo knallt ständig ein Fußball laut scheppernd gegen ein Garagentor. Meistens ist dieser Sehnsuchtsort ein bisschen unaufgeräumt, mit Pfützen, an denen wackelige Bauten aus Stöcken stehen, mit verwunschenen Lichtungen im Wald und Kreidezeichen an Häuserwänden, mit dreckigen Turnschuhen und feuchtschweren Handtuchrollen auf dem Rückweg vom Freibad.

Genug geträumt. Das deutsche Kinderhilfswerk hat zu Beginn der Sommerferien an alle Eltern appelliert, ihren Kindern ausreichend Raum zur Erholung und zum freien Spielen zu lassen. In Bayern, das seine 1,7 Millionen Schüler an diesem Samstag in die großen Ferien schickt, hat der Kinderschutzbund soeben Ähnliches geäußert: Kinder benötigen in den nächsten Wochen Zeit, um Energie zu sammeln - unabhängig davon, wie ihr Zeugnis ausgefallen ist.

Kindheit bleibt vor lauter Optimieren auf der Strecke

Kinder brauchen in den Ferien also Raum und Zeit für sich selbst. Sind solche Ermahnungen wirklich nötig? Wissen Eltern denn nicht selbst, was ihren Kindern guttut? Ja, sie sind nötig, sonst würden nicht Jahr für Jahr landauf, landab Pädagogen, Bildungsminister und Ärzte vor den langen Ferien die gleiche Botschaft verbreiten. Und jein, die meisten Eltern wissen eigentlich, dass ihrem Nachwuchs mehr Kindheit guttäte, sie waren ja selbst einmal Jungen und Mädchen.

Jetzt aber sind sie Eltern, tragen Verantwortung. Und sind so bemüht, das Wohl ihrer Kinder von früh bis spät bestmöglich zu organisieren, dass dieses Mehr an Kindheit vor lauter Optimieren auf der Strecke bleibt. Kindheit verträgt sich nicht mit perfekter Organisation. Kindheit bedeutet Freiheit, Freiheit bedeutet auch Mut zum Risiko und zu brenzligen Lagen, die ein junger Mensch allein bewältigen muss. Kindheit bedeutet spontane Abenteuer, die Uhr vergessen, sich möglichst wenig Regeln unterwerfen. Wann, wenn nicht in den Sommerferien, diesem gigantischen Vakuum aus sechs Wochen, wäre Gelegenheit dafür?

Zwei Faktoren hindern Eltern vor allem daran, ihren Nachwuchs diesem Zeitloch zu überlassen. Erstens: Den größten Spaß haben Kinder meist dann, wenn sich die Eltern einmal nicht einmischen. Zweitens: Die Unternehmungen, mit denen Kinder diese lange, leere Zeit aus sich heraus füllen, sind selten von messbarem Nutzen. Beides macht viele Mütter und Väter unheimlich nervös.

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Die stärkste Reaktion ruft der kindliche Freiheitsdrang hervor - die Angst, dem Kind könne etwas zustoßen. Die Hälfte aller Eltern von Kindern zwischen fünf und fünfzehn Jahren hat einer Umfrage zufolge ein mulmiges Gefühl, wenn sie ihr Kind alleine rauslassen. Das Kind, das Einzelkind zumal, ist ein Schatz, der beschützt wird, und sei es vor sich selbst. Acht von zehn Eltern wollen jederzeit wissen, wo sich dieser Schatz befindet, und ebenso viele wissen stets, mit wem er unterwegs ist. Es reicht nicht mehr, nach einem Tag, der die Eltern im Grunde nichts angeht, pünktlich am Abendbrottisch zu erscheinen. Heute ersetzen Eltern, damit nur ja nichts schiefgeht, Vertrauen durch Kontrolle. Bevor die Wohnungstür zuschlägt, rufen Väter, die sonst die ausdauernde Smartphone-Nutzung der Tochter kritisieren: Hast du dein Handy dabei? Denn darauf ist die Ortungs-App installiert. Sie zeigt in Echtzeit, ob das Mädchen wirklich Eis essen geht oder ob es im Park hängen bleibt, womöglich mit Freunden, die man noch nicht abgenickt hat.

Der Radius, in dem Kinder sich beim Spielen frei bewegen können, ist extrem geschrumpft: von durchschnittlich mehreren Kilometern in den Sechzigerjahren auf 500 Meter heute. Viele Kinder können keinen Purzelbaum mehr, geschweige denn ein Rad schlagen, da weder Kita noch Schule auffangen, was an unorganisierter Bewegung fehlt. Das wenige Rennen, Klettern, Balancieren ist nicht nur die Schuld von Eltern, die ihren Nachwuchs ungern von der Leine lassen. Es ist auch eine Folge der urbanen Verdichtung, die sich die letzten undefinierten Flächen einverleibt - und die Folge einer Stadtplanung, die das mit festgeschraubten Spielgeräten ausgleichen will. Ein "Ferien-auf-Saltkrokan"-Gefühl entsteht auf diesen eingezäunten Plätzen schwerlich. Umso besser, wenn die Kinder in den Ferien rauskommen, ob mit der Familie oder den Pfadfindern oder gleich beides.

Also ab ans Meer, in die Berge, die Pampa, und um die Freiheit steht es schon besser? Eigentlich ja, wäre da nicht der pädagogische Nutzen. Er ist der zweite Feind der großen Ferien, weil er den Sinn verlebter Sommertage an ihrem Bildungswert misst. Nach der Messlatte des pädagogischen Nutzens wird nicht mehr gespielt, sondern spielerisch etwas erreicht. Schon im Kita-Alter fängt das an, sprachlich, musisch, mathematisch, schließlich geht es um die Zukunft, um Chancen und Erfolg.

Besonders prädestiniert fürs Fördern und Fordern sind die Ferien vor der vierten Klasse. Ein fleißiger Sommer oder eine verpatzte Schullaufbahn, bei dieser Entscheidung geben auch die freiheitsliebendsten Eltern klein bei. Verbündet sich der pädagogische Nutzen mit der Zukunftsangst, dann hat er an allen Tagen des Jahres Macht. Dann ist die Kindheit eben doch zu kostbar, als dass sie dem Kind zur freien Verschwendung überlassen werden kann. Dann eben nicht Wald, sondern Waldpädagogik. Dann tarnt sich das Üben für Deutsch und Mathe als Spiel, lässig eingebaut zwischen Picknick und Wanderung. Auch das Rechenspiel auf dem Handy ist jetzt ganz okay. Und natürlich meinen die Eltern es mit alldem nur gut. Sie hegen ihr Liebstes, wer könnte das nicht nachvollziehen.

Trotzdem: In den Ferien kann man gar nicht genug Zeit verschwenden. Im Gegenteil, Zeitverschwendung ist der Inbegriff von Ferien. Erst wenn die Tage ineinanderfließen, wenn Mittwoch Donnerstag ist - oder doch schon Freitag? - na, egal . . ., dann sind Ferien.

© SZ vom 29.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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