Bitte nicht schon wieder Champions League! Nicht um diese Zeit, kurz vor dem Ins-Bett-Gehen der Kinder. Stadionjubel brandet durchs Wohnzimmer, Ronaldo ist am Ball, dribbelt Mats Hummels aus - "Jetzt könnte es gefährlich werden!", schreit Sky-Reporter Wolff-Christoph Fuss. Boah, beinahe ein Tor! Fuss mahnt die Gegner: "Es ist an den Kreativen, hier mal 'ne Idee zu entwickeln."
Was hier läuft, ist natürlich nicht Champions League, es ist nicht mal richtiger Fußball, auch wenn die Plattitüden der Kommentatoren enorm vertraut klingen und die Spieler auf dem Platz optisch nichts von ihren Vorbildern unterscheidet. Bis auf eine Kleinigkeit: Sie sind nicht echt.
24 Stunden "Fifa 17"
Statt ins Bett zu gehen, hält der 13-jährige Paul einen Controller in der Hand und starrt auf den Fernsehschirm. Er spielt "Fifa 17", das Computerspiel, das alle seine Freunde auch spielen. Nach der Schule, vor dem Abendessen, nach den Hausaufgaben, vor dem Ins-Bett-gehen. Wenn man ihn ließe, würde er an manchen Tagen vermutlich durchgehend "Fifa 17" spielen, sofern er nicht gerade Youtube-Videos anguckt, auf denen zu sehen ist, wie andere Spieler "Fifa 17" spielen.
Haben wir es hier mit einem Opfer jener Eltern zu tun, die der Kinderpsychiater Michael Winterhoff meint, wenn er davon spricht, dass viele Erwachsene "die Launen ihrer Kinder immer weniger ertragen und ihnen einfach schnell das geben, was sie wollen, damit sie ruhig sind"? Da ist ja unbestreitbar etwas dran: Wie oft erlebt man Familien, die gemeinsam am Tisch eines Lokals sitzen, aber kein Wort miteinander reden, weil sich die Kinder mit ihren Handys in einer anderen, einer digitalen Welt bewegen.
Andererseits: Paul ist nicht sozial auffällig und hat außer Computerspielen noch jede Menge andere Interessen. Zum Beispiel spielt er selbst Fußball im Verein, liest Bücher und geht gerne ins Kino. Dass er und seine Freunde ständig vor der Playstation sitzen und immer neue Fifa-Partien abspulen, würden Medienwissenschaftler mit dem "Konzept der strukturellen Kopplung" erklären, was bedeutet: Ihr bevorzugter Medienkonsum hat etwas mit ihrem wirklichen Leben zu tun, in dem sie sich stark für Fußball interessieren. Umgekehrt könnte man sagen, dass ihr wirkliches Leben so stark an ihren Medienkonsum gekoppelt ist, wie es keine Generation vor ihnen erlebt hat.
Offenbar stehen für Kinder zwischen fünf und 13 Jahren das reale und das digitale Leben gleichberechtigt nebeneinander. Was keineswegs bedeutet, dass Kinder die simulierte und die reale Welt nicht mehr voneinander unterscheiden könnten. Aber sie wägen doch sehr kühl ab. Soll ich mit Oma und Opa heute Nachmittag einen Spaziergang in den Hirschgarten unternehmen oder lieber die Challenge beim Handyspiel "Clash of Clans" annehmen? Im Hirschgarten kann man die süßen kleinen Rehe anschauen, bei Clash of Clans gibt es die Chance, ein wichtiges gegnerisches Dorf zu erobern. Es besteht zumindest die Gefahr, dass ein Zehnjähriger den Spaziergang mit den Großeltern für die weniger spannende Challenge hält.
Ist das schlimm? Viele Eltern sind besorgt, manche verzweifelt. Das Kind daddelt den ganzen Tag mit dem Handy, spielt am Computer, was sollen wir nur machen? Es ist das große Thema beim Elterntreff oder beim Grillabend im Garten. Während die Erwachsenen diskutieren, sitzen die Kinder zusammen - und zocken.