Studium:Fächer, die die Welt noch braucht

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Wer Hebamme werden will, machte früher eine Ausbildung. Heute muss es ein Studium sein, zum Beispiel an der Katholischen Stiftungsfachhoschule in München. Das Ziel ist, den wachsenden Anforderungen des Berufs gerecht werden – und den eklatanten Mangel an Nachwuchs abzumildern. (Foto: Robert Haas)

Blockchain, Angewandte Sexualwissenschaft, Hebammenkunde: Warum es heute mehr als 20 000 Studiengänge gibt, aber keinen Grund, sich darüber aufzuregen.

Von Christoph Koopmann

Das soll jetzt nicht vermessen klingen, sagt Andreas Ittner, aber er habe von Anfang an gewusst, dass da etwas Großes entsteht. Etwas, das die Welt verändern würde, zumindest die digitale: die Blockchain. Vor zehn Jahren war dieses Verfahren ein völlig neuartiges Sicherungssystem, bei dem Daten dezentral gespeichert und verkettet werden. Das macht es so gut wie manipulationssicher. Ittner, Professor für Informatik an der Hochschule Mittweida in Sachsen, war überzeugt von der Technologie - und machte einen Studiengang daraus: den Blockchain-Master.

Die erste öffentliche Blockchain diente als Sicherung für die Kryptowährung Bitcoin. Doch Ittner erklärt, dass die Technologie noch zu viel mehr zu gebrauchen ist: Um Lieferketten für Lebensmittel nachvollziehbar und transparent zu machen zum Beispiel, oder um Dokumente und Zeugnisse fälschungssicher zu übermitteln.

So wie die E-Mail den Menschen das Tor ins Internet öffnete, könnte Bitcoin der Türöffner für die Blockchain gewesen sein. So jedenfalls sieht Ittner das. Er hielt erste Vorlesungen zu dem Thema, gründete ein "Blockchain Competence Center". Und dann, 2018, war es so weit: Die Hochschule brachte den Blockchain-Master an den Start, "als erste Hochschule auf dem europäischen Festland", betont Ittner, er klingt ein bisschen stolz. "In dem Bereich gibt es enormes Forschungs- und Entwicklungspotenzial", sagt er. Dass daraus ein Studiengang wurde, findet er nur logisch.

Im Wintersemester 2007/2008 gab es nach Angaben der Hochschulrektorenkonferenz an deutschen Hochschulen etwa 11 000 Studiengänge. Zwölf Jahre später, im Wintersemester 2019/2020, waren es 20 029, die auslaufenden nicht mitgezählt. Der Blockchain-Master befindet sich also in großer Gesellschaft. Aber auch in guter?

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Mehr als 20 000 Studiengänge gibt es in Deutschland, teils recht kuriose. Wo arbeiten Arboristen? Was macht ein Ingenieurspsychologe? Hier erzählen sie es.

Die damalige Bundesforschungsministerin Johanna Wanka (CDU) beklagte schon vor fünf Jahren "Wildwuchs". Christian Kerst sieht das ein wenig anders. Am Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) beschäftigt er sich mit Bildungsverläufen und damit, wie es für Studienabsolventen beruflich weitergeht nach dem Abschluss. "Es hat immer einen Zuwachs an Fächern gegeben", sagt er. Dass die Anzahl der Studiengänge sich in so kurzer Zeit beinahe verdoppelt hat, liegt Kerst zufolge vor allem an der Bologna-Reform. Logisch, wo es früher einen Diplomstudiengang für Informatik gab, braucht es heute einen Bachelor- und einen Masterstudiengang. Mindestens. Ein Ziel der Reform war schließlich, dass Studierende sich im zweiten Teil ihrer akademischen Laufbahn besser spezialisieren können - und mit Informatik-Bachelor etwa den neuen Blockchain-Master machen.

Seit einigen Jahren kann man Erneuerbare Energien studieren. Kernphysik gerät aus der Mode

Solche Beispiele gibt es zuhauf, auch abseits der mittlerweile etablierten "Hybridfächer" wie Wirtschaftsingenieurwesen oder Biochemie. An der Fachhochschule Dortmund etwa kann man den dualen Bachelor "Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Migration und Integration" studieren, was der Spiegel einmal mit "Flüchtlingshilfe" übersetzte. Man kann das für zu speziell halten. Andererseits ist es wohl kaum ein Nachteil, wenn Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die Migranten betreuen, sich mit dem Aufenthaltsrecht auskennen.

Der Master "Angewandte Sexualwissenschaft" an der Hochschule Merseburg hört sich erst einmal schmuddelig an, aber es geht unter anderem um Gleichstellung, Familienplanung und sexuelle Gewalt. An der TH Wildau startet im kommenden Jahr ein Master für Radverkehr. Selbst Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU), dem eine gewisse Vorliebe fürs Auto nachgesagt wird, fördert diese Neuerung, weil er "in der Gesetzgebung, in der Verkehrsplanung oder in der Innovationsforschung" beim Rad Nachholbedarf sieht.

"Das Studienangebot wandelt sich eben mit den Begebenheiten der Zeit", sagt Christian Kerst vom DZHW. Forschungsfelder entstehen neu, andere verschwinden wieder. "Seit einigen Jahren kann man zum Beispiel Erneuerbare Energien studieren", sagt Kerst, "dafür haben die Hochschulen ihr Angebot an Kernphysik-Studiengängen zurückgebaut." Akademische Energiewende sozusagen. Wenn der Arbeitsmarkt den Absolventen neuer Studiengänge genügend Chancen biete, dann sei eine Angebotserweiterung sinnvoll, sagt Kerst. "Problematisch ist es, wenn ein Studium sehr kurzfristigen Trends folgt oder zu eng zugeschnitten ist."

Neben der zunehmenden Spezialisierung von Studiengängen sieht Christian Kerst noch einen weiteren Trend: Professionen, die einst Ausbildungsberufe waren, werden zu Hochschulfächern. "Akademisierung" nennen sie das beim DZHW, was konkret bedeutet, dass angehende Kita-Erzieher, Kranken- sowie Altenpflegerinnen mittlerweile studieren können. Sogar wer Hebamme werden möchte, muss seit Beginn dieses Jahres an eine Hochschule. Die alten Hebammenschulen bilden nur noch zwei Jahrgänge aus. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sieht darin ein Mittel, um "auf die wachsenden Anforderungen in der Geburtshilfe" zu reagieren - und vor allem den eklatanten Hebammenmangel wenigstens abzumildern. Im Rest der EU ist das Hebammenstudium fast überall längst Standard.

"Die Umstellung war überfällig", sagt Klaudia Winkler. Als Vizepräsidentin der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg (OTH) hat sie den neuen Bachelor of Science in Hebammenkunde konzipiert, den sie auch kommissarisch leitet. "Hebammen haben eine unheimliche Verantwortung, denn sie begleiten Frauen durch Schwangerschaft, Geburt und Nachsorge", sagt Winkler. Sie seien eher "Geburtsmedizinerinnen" als Pflegekräfte. Allein deshalb habe der Beruf weiter professionalisiert werden müssen. Außerdem seien die Ansprüche an Hebammen seit den Achtzigerjahren enorm gestiegen. Zum Beispiel würden viele Geburten schwieriger und betreuungsintensiver, weil Schwangere im Schnitt älter sind als früher.

Ein weiterer Grund, warum Winkler die Akademisierung positiv sieht: "Wir können nun systematisch wissenschaftliche Befunde in die Arbeit einbringen." Viele Techniken hätten sich im Lauf der Zeit als hilfreich erwiesen, aber "jetzt wird das auch erforscht", sagt Winkler. "Denn auch Hebammen müssen ständig hinterfragen, ob ihr Wissen aktuell und fundiert ist."

An der OTH und gut zwei Dutzend weiteren Hochschulen mit Hebammenstudium wird allerdings nicht nur geforscht. Die Studiengänge haben einen hohen Praxisanteil, wenngleich er im Vergleich zur Ausbildung von 3000 Stunden auf 2200 Stunden reduziert ist. "Dadurch können sich die Studierenden aufs Wesentliche fokussieren, also vor allem Schwangerschafts- und Geburtshilfe", sagt Winkler. Ihrer Ansicht nach entwertet der neue Studiengang auch nicht den Abschluss derjenigen, die schon als Hebammen arbeiten. "Egal, ob man eine Ausbildung oder ein Studium absolviert hat, man ist absolut fähig, eine Geburt zu begleiten", sagt Winkler. Die Bachelorabsolventinnen seien eben zusätzlich im Umgang mit wissenschaftlichen Studien und Forschung geschult.

Vor einem Jahr haben die ersten Hebammenkunde-Studentinnen an der OTH angefangen. Bislang sieht Klaudia Winkler das Modell als Erfolg. Pro Semester können etwa 20 Studierende beginnen - bei ungefähr 400 Bewerbungen. Wenn sich das Studium etabliert und das Angebot an Praxisplätzen mitwächst, dann könnte es tatsächlich ein Weg aus dem Hebammenmangel sein, da ist Winkler zuversichtlich.

Auch Andreas Ittner, Initiator des Blockchain-Masters in Mittweida, ist zufrieden. Die ersten zwei Dutzend Studenten schließen ihr Studium gerade ab. "Sie haben dazu beigetragen, die Forschung voranzutreiben, und sind praktisch alle schon in Lohn und Brot", sagt Ittner. "Was will man als Professor mehr?"

© SZ vom 05.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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