Digitales Lernen:Als Lehrer taugt der Computer nicht

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Mit vorprogrammierten Übungen für Mathe oder Grammatik können Schüler sehr selbständig lernen, für Textarbeit eignen sie sich nur bedingt, sagt Sandra Richter. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Schüler werden zunehmend an Tablets und Whiteboards unterrichtet. Das hat Vorteile, solange die digitale Technik nicht blind eingesetzt wird. Wer Texte wirklich verstehen will, muss immer noch blättern und anstreichen.

Gastbeitrag von Sandra Richter

Politisch ist die Zukunft auf Digitalität programmiert: Noch dieses Jahr soll der Digitalpakt neueste Technologien in die Klassenzimmer bringen. Große Versprechen flankieren die politische und pädagogische Kraftanstrengung: Schüler sollen digitale Kompetenz erlernen, um sich auf den Arbeitsmarkt und die demokratische Gesellschaft der Zukunft vorzubereiten. Von digitalen Werkzeugen und Materialien wird erwartet, dass sie den Weg dorthin ebnen.

Gerade aber hat eine Gruppe von 130 europäischen Leseforschern der Begeisterung für digitales Lernen und Lesen eine Pause verordnet. Das Ergebnis ihrer großen Studie: Beim digitalen Lesen und speziell unter Zeitdruck gehen wir zu selbstsicher mit Texten um. Digital lesen wir oberflächlicher als analog. Führen die digitalpolitischen Programme also zum Gegenteil dessen, was sie bewirken sollen? Kannibalisiert die digitale Kompetenz gar die Lesefähigkeit? Die Fronten in dieser Frage lassen sich nur auflösen, wenn wir uns darüber verständigen, was digitale Medien leisten und nicht leisten können.

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Erstens erleichtert Digitalität Teilhabe. Der Einsatz digitaler Technik kann den Zugang zu Texten oder Kunstwerken verbessern oder erst ermöglichen, und zwar überall dort, wo es ein Endgerät mit Internetanschluss gibt. Zweitens befördern digitale Medien das individualisierte Üben von Erlerntem. Vorprogrammierte, leicht abrufbare und steuerbare Übungen am Computer emanzipieren Lehrer und Schüler, gleich, ob es sich um mathematische oder grammatische Aufgaben handelt. Drittens ergänzt die Digitalität Analysetechniken. In den Geisteswissenschaften helfen Computer etwa, Worthäufigkeiten in Texten zu ermitteln, Bilddetails heranzuzoomen oder Audiodaten zu vergleichen.

Zugleich aber wird unser Lesen und Interpretieren komplizierter: In digitalen Katalogen tauchen Texte und Artefakte auf, die längst vergessen waren. Heute finden wir mehr Dokumente als vor dreißig Jahren, und wir müssen fragen, ob unser Kanon vor dem Hintergrund der Funde noch trägt. Die Ergebnisse quantitativer Analysen rufen neue Forschungsfragen hervor: Was lernen wir, wenn wir wissen, dass Wörter wie "Einsamkeit" und "Tod" in der Literatur von 1770 bis 1830 häufig vorkommen? Was folgt daraus, dass Bestseller in hohem Maße wörtliche Rede verwenden?

Lesen wir zum Vergnügen und dürfen auch etwas überlesen, dann genügt das E-Book. Wollen wir Forschungsartikel nur überfliegen, reicht ein Digitalisat aus. Die elektronische Form beschleunigt die Kommunikation, spart Chemie, Holz- und Transportkosten, allerdings - so eine Studie des Freiburger Ökoinstituts - erst nach dem zehnten E-Book und wenn der Reader mindestens drei Jahre läuft.

Wollen wir uns aber nicht bloß vergnügen oder rasch informieren, sondern die Kulturtechnik des Interpretierens weiterentwickeln und bewahren, sieht es anders aus. Angesichts der Datenmengen und der gesellschaftlichen Kontroversen der Gegenwart sind wir mehr denn je auf diese Technik angewiesen, die zu Recht als Kunst gilt. Um diese Kunst zu pflegen, reichen aber weder digitale Medien noch digitale Analysen aus.

Sandra Richter, 45, ist Germanistin und leitet das Deutsche Literaturarchiv Marbach. (Foto: dpa)

Textdeutungen auf Knopfdruck können Computer bislang nicht liefern. Vielleicht ist die Interpretation, das Gespräch zwischen Autor, Text und Leser, ja eine spezifisch menschliche Gabe? Dem Computer sind Sinn und Bedeutung gleichgültig. Sinnerfüllte und historisch informierte Textdeutungen lassen sich ebenso wenig maschinell erzeugen wie zwischenmenschliche Erfahrungen und ausgewogene Urteile. Algorithmen für Einordungsvermögen, ästhetischen Sinn und textsensible Deutung sind nicht in Aussicht. Als Lehrer, Vorbild oder Meisterinterpret taugt der PC nicht.

Wer etwas verstehen, gründlich lesen, oder gar das Lesen als Schüler erst erlernen soll, wird mit dem Stift anstreichen, von hinten nach vorn blättern, Texte nebeneinander legen und etwas herausschreiben. Vorerst sichert vor allem die Lektüre von Büchern und Papieren unsere Praktiken des Lesens und Verstehens in vollem Umfang. Digitalität kann, richtig eingesetzt, aber Voraussetzungen für Verstehen schaffen, die langfristig an analoge Leseweisen anknüpfen und diese erweitern können. Den Maschinen sollten wir die Chance geben, uns dabei zu unterstützen - mehr jedoch nicht.

© SZ vom 20.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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