Im Juni 1920 rief das Innenministerium Bildungsexperten zu einer großen Konferenz zusammen. Wie soll es aussehen, das Schulsystem der jungen Weimarer Republik? Braucht die erste Demokratie auf deutschem Boden nicht eine gemeinsame Schule für alle Bürger? Die Reformer waren kämpferisch, aber sie scheiterten. Schon vor 100 Jahren schlossen die Parteien einen Schulfrieden, der im Grunde bis heute hält: Das Gymnasium bleibt, die Einheitsschule wird es nicht geben. Im Sommer erst erneuerten Regierungs- und Oppositionsparteien in Hamburg ihre schulpolitischen Waffenstillstand. Die Idee von der einen Schule für alle, sie ruhe in Frieden.
Dabei liefern die Befunde der jüngsten Pisa-Studie Anlass für eine Debatte über ein Ende der Friedenspflicht. Die soziale Herkunft bestimmt weiterhin die Bildungschancen der Kinder, in Deutschland stärker als in anderen Ländern; gerechter sind die Schulen über die Jahre kaum geworden. Die Unterschiede zwischen Gymnasien und anderen Schulformen haben sich sogar vergrößert. Im Lesen schnitten Gymnasiastinnen und Gymnasiasten um 120 Punkte besser ab als ihre Altersgenossen an den übrigen Schulformen, bei der Pisa-Runde 2015 lag der Vorsprung noch bei 102 Punkten. Der Anteil der sehr leseschwachen Jugendlichen ist jenseits des Gymnasiums gestiegen, von 21 auf 29 Prozent. An Gymnasien blieb er dagegen mit zwei Prozent verschwindend gering. "Diese Ergebnisse müssten ein Weckruf sein", sagt daher Ilka Hoffmann, die im Vorstand der Bildungsgewerkschaft GEW für den Bereich Schule zuständig ist.
Dass die Schulen auseinanderdriften, erstaunt. Denn zum Friedenskompromiss der vergangenen Jahre gehörte oft, das gegliederte System zumindest sanft zu stutzen. Hauptschulen wurden abgeschafft oder mit Realschulen zusammengelegt, weil selbst ihre härtesten Verfechter einsahen, dass sonst Lernghettos drohen, die kaum Perspektiven bieten. In manchen Ländern gibt es neben dem Gymnasium heute nur noch eine weitere Schulform, auf der oft das Abitur möglich ist. Ein zweigliedriges System versprach einen Weg zu mehr Bildungsgerechtigkeit, ohne dafür die ideologischen Gräben neu aufzureißen. Diese Erwartung durchkreuzt Pisa nun: "Die Hoffnung erfüllt sich nicht, dass die Unterschiede in den Leistungen geringer werden, wenn es weniger Schulformen neben dem Gymnasium gibt. Allein auf diese Reform zu setzen, reicht offenbar nicht", sagt Pisa-Forscherin Kristina Reiss. Eine klare Antwort für die wachsende Kluft hat sie noch nicht. Zu frisch sind die Daten.
Zumindest scheint es nicht daran zu liegen, dass das Bildungssystem stärker nach Herkunft aussieben würde als früher. An Gymnasien lernen zwar viel weniger Kinder aus Zuwandererfamilien oder ärmeren Haushalten als auf den übrigen Schulen. Die Unterschiede sind groß, sie sind allerdings zwischen 2012 und 2018 nicht größer geworden, wie der im Herbst erschienene IQB-Ländervergleich zeigt, eine Art innerdeutsche Pisa-Studie. Anders gesagt: Das Bildungssystem ist sozial selektiv. Aber dass die Leistungen sich auseinanderentwickeln, liegt offenbar nicht daran, dass es selektiver geworden wäre. Womöglich sind eher die Bedingungen jenseits des Gymnasiums schwieriger geworden.
Diese Vermutung äußert GEW-Vorstandsmitglied Ilka Hoffmann. Und darauf deuten auch die Prognosen der Kultusminister hin, die am Gymnasium als einziger Schulform für die kommenden Jahre "durchgängig ein Überangebot" an Lehrkräften erwarten. Die Lieblingsschule des Bürgertums hat kaum Probleme, gute Lehrer zu finden, Schulen mit weniger günstiger Klientel fällt dies dagegen zunehmend schwer. Was aber auch die Gründe sind, am Fazit ändert sich zumindest aus Hoffmanns Sicht nichts: Ein bisschen zurechtstutzen reicht nicht, über das gegliederte Schulsystem müsse endlich wieder sehr grundlegend geredet werden. "Dieses Tabu muss fallen."