SZ: Frau Fleischmann, ahnen Sie, wie viele Kinder in den Sommerferien Lesen und Schreiben oder Rechnen üben müssen?
Simone Fleischmann: Aus meiner Erfahrung als Lehrerin und Schulleiterin schätze ich, dass deutlich mehr als die Hälfte der Eltern ihren Kindern in den Ferien lieber die Entspannung und Freiheit geben, die sie brauchen, um wieder Kräfte zu sammeln, auch auf der psychischen Ebene. Ein Kind, das ständig mit seinen Schwächen konfrontiert wird, übt und übt, und dann nicht mal mit guten Noten belohnt wird, könnte sonst grundsätzlich an sich zweifeln und sein Selbstwertgefühl verlieren.
Heißt das, Schüler mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS), mit Legasthenie oder der Rechenstörung Dyskalkulie sind seelisch sehr belastet?
Für viele ist das Etikett "Ich bin Legastheniker" oder "Ich bin Dyskalkuliker" eine große Bürde. Selbst wenn sie motiviert sind, Eltern und Lehrer sie unterstützen, haben diese Kinder einen schweren Stand und immer wieder Hürden, die andere nicht haben. Sie fühlen sich nicht wohl, werden ständig daran erinnert: Mei, du kannst ja nicht mal rechnen. Das ist ein wirkliches Hindernis für ihre Entwicklung.
Wofür braucht man denn das Etikett?
Für das Kind nicht, für die Schule eigentlich auch nicht - aber um bestimmte Interventionen zu rechtfertigen und sie von der Jugendhilfe finanzieren zu lassen. Nur mit der Diagnose kriegt man beispielsweise den externen Experten, der das Kind gut versteht und genau an seinen Stärken und Schwächen entlang handelt. Das ist gesetzlich so fixiert. Wir leben in einer sehr leistungsorientierten Gesellschaft und einer sehr verrechtlichten Schullandschaft. Wer da eine besondere Maßnahme bekommt, braucht eine saubere Legitimation.
Wie leben Eltern mit der Diagnose?
Ich war lange diagnostizierende Schulpsychologin und habe Eltern erlebt, die ihr Kind testen ließen, aber niemand durfte davon wissen. Auch Therapien wurden abgelehnt. Da hieß es dann, mein Kind ist doch nicht doof. Andere Eltern sind enorm engagiert.
Welche Maßnahmen darf die Schule diagnostizierten Kindern anbieten?
Ein Beispiel: Im Heimat- und Sachunterricht wird eine 30-minütige Probe geschrieben. Dann kann die Lehrerin dem Kind mit LRS oder Legasthenie zum Erlesen der Aufgabe und Antwortenschreiben mehr Zeit geben, wenn ihm das hilft. Oder sie geht zum Kind hin und fragt: Soll ich dir die Aufgabe vorlesen? Dann gibt es noch spezielle Förderstunden und Kurse. Und dann noch den Notenschutz, wenigstens bei Legasthenie. Dann verzichten wir auf Noten im Lesen und Schreiben.
Wie finden das die Kinder?
Nicht immer gut: Wie jetzt, du hast eine Vier in der Leseprobe und ich hab nix? Was heißt denn nix, kann ich das nicht? Und dann hören sie: Nein, du kannst das noch nicht, aber lernen sollst du es schon. Für manche Kinder kann der Notenschutz deshalb eine weitere Hürde sein. Für andere Kinder ist er wiederum genau richtig, und viele Eltern wollen ihn auch.