Antisemitismus an Schulen:Ein Schüler sagte: "Israel gibt es doch gar nicht"

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Bildungsreise: Berliner Lehrer besuchen die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. (Foto: Verena Mayer)

Die Zahl antisemitischer Vorfälle an Berliner Schulen steigt seit Jahren. Lehrkräfte lernen nun in Yad Vashem, wie man Schüler gegen Judenfeindlichkeit immunisiert.

Von Verena Mayer, Jerusalem

Da stehen sie nun, in dem stockdunklen Raum mit den vielen Spiegeln. Irgendwo brennen Kerzen, aber man sieht sie nicht, nur leuchtende Punkte, die sich so oft spiegeln, dass man glaubt, mitten im Sternenhimmel zu sein. Alle paar Sekunden erscheint auf einer Leinwand das Gesicht eines Kindes, und eine Stimme sagt seinen Namen und sein Alter. Die Kinder wurden im Holocaust ermordet, nun erinnert diese Installation in der Gedenkstätte Yad Vashem an sie. Es lässt keinen unberührt, sich hier durchzutasten. Die Finsternis, die Namen, die Gesichter auf den Fotos, die etwas so Heutiges haben.

Doch zum Innehalten bleibt nicht viel Zeit. Die Gruppe muss weiter, zum nächsten Programmpunkt. Die Frauen und Männer sind Lehrkräfte aus Berlin und zur Fortbildung in Israel. Der Berliner Senat hat sie nach Yad Vashem reisen lassen, damit sie sich über Antisemitismus informieren. Darüber, wie er entsteht und wozu er führen kann.

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Dafür gibt es gute Gründe. Die Zahl antisemitischer Vorfälle steigt in der Hauptstadt seit Jahren an. 527 waren es der Berliner Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus zufolge allein im ersten Halbjahr 2018; vor allem körperliche Attacken gegen Juden haben zugenommen. Besonders im Fokus sind die Schulen. Immer wieder haben in Berlin Fälle von Antisemitismus für Schlagzeilen gesorgt. Ein 14-Jähriger wurde an seiner Oberschule getreten und gewürgt, nachdem er im Ethikunterricht erwähnt hatte, dass er schon einmal in einer Synagoge war. Ein jüdischer Junge verließ eine deutsch-amerikanische Eliteschule nach monatelangem Mobbing, Mitschüler hatten ihm den Qualm einer E-Zigarette ins Gesicht geblasen und gesagt, das solle ihn an seine Vorfahren erinnern. Selbst an Grundschulen wurden schon Kinder bedroht, weil sie jüdisch sind.

Die Berliner Lehrerinnen und Lehrer, die jetzt über das Gelände auf dem Mount Herzl in Jerusalem gehen, könnten darüber viel erzählen. Sie tun das nur ungern öffentlich, aus Sorge, ein schlechtes Licht auf ihre Schule zu werfen. Die dunkelhaarige Frau etwa, die an einer Sekundarschule Geschichte unterrichtet und hier "Frau S." heißen soll. Frau S. hat einiges erlebt. Schüler, die regelmäßig in Moscheen gehen, die vom Verfassungsschutz beobachtet werden, ein Mädchen, das nach den Sommerferien plötzlich im Tschador auftauchte. Und Frau S. erinnert sich noch gut an die Reaktionen, als sie ihrer Klasse vorschlug, ein Projekt zu Israel zu machen. "Israel gibt es doch gar nicht" hieß es, oder: "Wenn wir das machen, fackeln sie uns die Klasse ab."

Was kann man aus Jerusalem für den Schulalltag mitnehmen?

Und das sind noch die harmloseren Geschichten. Eine Lehrerin aus Marzahn-Hellersdorf erzählt, dass sich in den Plattenbauvierteln regelmäßig Rechtsradikale vor Schulen versammeln, um Flugblätter zu verteilen. Eine Pädagogin, die Schülern in einer Ausstellung den Holocaust näherbringen soll, hatte mit Jungs zu tun, die in Neonazi-Klamotten ankamen oder sagten: Hitler war ein Held. Wo soll man da anfangen? Und was kann man aus Jerusalem für den Schulalltag in Berlin mitnehmen?

Die Gruppe betritt die Ausstellung. Ein grauer Betonkeil mit einem langen Gang in der Mitte, von dem einzelne Räume abgehen. In jedem geht es um ein Kapitel der Judenverfolgung, von der gesellschaftlichen Ausgrenzung bis zu den Vernichtungslagern. Der Gang ist eng und abschüssig. Man kann ihn nicht vor dem Ende der Ausstellung verlassen, Antisemitismus führt unweigerlich in den Abgrund.

Eine Referentin der Gedenkstätte lotst die Gruppe durch die Touristen, die sich zwischen Vitrinen und Schaukästen zusammendrängen. Sie bleibt vor einem nachgebildeten Wohnzimmer stehen, mit vielen Büchern, einem Klavier und einem Telefon, die typische Wohnung einer großbürgerlichen jüdischen Familie in Mitteleuropa. Die Referentin erzählt dazu einen Zeitzeugenbericht aus den Dreißigerjahren: Ein jüdischer Arzt mit einem großen Freundeskreis brauchte eines Tages Hilfe, um Deutschland verlassen zu können. Er rief alle seine Freunde und Bekannten an. Keiner von ihnen ging ans Telefon.

Es gehe darum, Geschichte am Beispiel von Personen zu erzählen, sagt die Referentin. An ihrem Alltag, den Entscheidungen, die sie zu treffen hatten. Wie der Berliner Vater, der seinen sechsjährigen Sohn mit einem Kindertransport nach England schickte. Er selbst musste zurückbleiben und wurde später ermordet. Sein Sohn litt so sehr unter der Trennung, dass er nicht mit dem Vater sprechen wollte, wenn er anrief. Also schrieb der Vater Postkarten. Eine liegt in einer Vitrine: mit einem Hasen darauf, weil der Junge Ostern liebte. Frau S. hört aufmerksam zu, später kauft sie im Shop der Gedenkstätte eine Reproduktion der Karte. Sie ist 34 und strahlt mit jeder Geste aus, dass sie für ihren Beruf brennt. Vielleicht könne sie ihren Schülern damit etwas erklären, sagt sie. Wie Familien zerrissen wurden, Kinder plötzlich allein waren. Wie nah einem die Vergangenheit sein kann, wenn sie den Alltag berührt.

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Die Lehrkräfte sehen sich die Halle der Namen an, jenen berühmten kegelförmigen Raum mit den vielen Fotos der Ermordeten. Sie legen einen Kranz in der Halle der Erinnerung nieder, unter deren dunklen Steinplatten sich Asche aus den Konzentrationslagern befindet. Und sie sitzen über Stunden in einem der vielen Seminarräume; die Gedenkstätte ist weltweit für ihre Schulungen bekannt. Draußen liegen die grünen Hügel von Jerusalem, drinnen hängen Lagerpläne des Konzentrationslagers Auschwitz. Die Lehrkräfte hören Vorträge, wie sich der Antisemitismus über die Jahrhunderte verändert hat oder lernen, was man unter "Arisierung der Erinnerung" versteht. Dass sich das Wissen über den Holocaust nämlich vor allem aus dem zusammensetzt, was die Täter überliefert haben. Und dass man im Unterricht so genannte Ego-Dokumente verwenden solle, Fotos, Aussagen oder Texte, die von den Opfern selbst stammen.

Es ist alles sehr dicht, für Fragen bleibt wenig Zeit, auch nicht für die Beklemmung, die sich einstellt. Wie weit man hier, mitten in den Hügeln von Jerusalem, von Deutschland entfernt ist und wie eng verwoben man mit diesem Ort doch ist. Und wie belastet das Verhältnis zwischen Israelis und Deutschen immer noch ist. Als sich ein junger Gymnasiallehrer in einem Ausstellungsraum mit einer Kollegin unterhält, wird er plötzlich von einem israelischen Soldaten angesprochen, der mit seiner Einheit Yad Vashem besucht. Was ihm einfalle, hier Deutsch zu sprechen, sagt er.

Es sind Begegnungen, die Eindruck hinterlassen, der komplizierte Alltag in Israel, einmal kreist ein Hubschrauber über der Gedenkstätte und ein Security-Mann scheucht die Gruppe im Laufschritt vom Gelände, offenbar ist irgendwo etwas passiert. Und man sieht mit eigenen Augen, wie nahe von hier oben das Westjordanland ist und damit der Nahostkonflikt, der ganz neue Formen der Judenfeindlichkeit hervorgebracht hat, vor allem bei den arabischstämmigen Schülern. "Eigentlich müsste man es den Schülern ermöglichen, hierherzukommen", sagt Frau S.

Erst aber kommt die Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres zu Besuch. Sie stößt am Abend im Hotelrestaurant zur Gruppe, geht von Tisch zu Tisch, hört sich alles an. Über die Schüler eines Oberstufenzentrums im bürgerlichen Berliner Westen etwa, die im Geschichtsunterricht eine Fernsehdokumentation über das 20. Jahrhundert sahen. Kaum ging es dabei um die Staatsgründung Israels 1948, wurde laut aufgestöhnt. Eine Lehrerin aus Kreuzberg erzählt, dass ihre türkischen Schüler beim Thema Holocaust gerne sagten: Was geht uns das an, das ist doch eure Geschichte.

Frau S. kennt Sandra Scheeres schon, die Senatorin war an ihrer Schule, nachdem dort die Decke eingestürzt war, auch das ist Alltag an Berliner Schulen. Scheeres sagt, dass Demokratie nichts Selbstverständliches sei und jede Generation sich das erarbeiten müsse. "Wir als Deutsche haben eine Verantwortung, daran zu erinnern." Sätze, die man nicht oft genug sagen kann. Und die doch etwas offenlassen: Wie man sie in Berlin umsetzen soll, an Schulen, an denen so viel an den Lehrern hängen bleibt. Bei Frau S. etwa. Eines Tages wandte sie sich wegen eines Schülers ans Jugendamt, mehrere Hundert Mal hat sie angerufen. Niemand reagierte, Frau S. alarmierte die Polizei, wo man ihr sagte: Macht ihr Lehrer doch mal. Denn wer könnte sonst etwas bewirken?

© SZ vom 24.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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