Politischer Wandel in Bayern:Vom Untertan zum Bürger

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In Traunstein zeichnet eine Ausstellung den dramatischen Wandel der Stadtgesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach - mit erstaunlichen Mitteln.

Von Hans Kratzer, Traunstein

Wie stark die Menschen von den Gesinnungen ihrer Zeit geprägt sind, das kommt trefflich in den alten Porträtfotografien zum Ausdruck. Auf dem Flyer, mit dem das Stadtarchiv Traunstein seine aktuelle Ausstellung bewirbt, ist das Bild eines Brautpaars aus dem Jahr 1877 zu sehen. Die junge Dame hockt auf einem gepolsterten Sessel, ihr Gemahl steht stramm neben ihr, beide blicken recht ernst in die Ferne.

Einen auffälligen Kontrast bildet das Paar daneben, das 1922 abgelichtet wurde. Es steht entspannt und fröhlich lächelnd auf einer von Blumen gesäumten Terrasse. Welch ein Unterschied in der Haltung. Die beiden Fotografien umgreifen eine Zeit extremer Veränderungen, deren Folgen bis heute nachhallen.

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In der aktuellen Landesausstellung in Regensburg werden die Umbrüche am Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert am Beispiel der letzten Monarchen thematisiert. In der Schau in Traunstein wird der damalige Epochenwandel auf eine bürgerliche Kleinstadt heruntergebrochen, das Ergebnis aber gilt für viele Orte in Bayern. "Wir wollen zeigen, welche Folgen das alles für das gewöhnliche Volk hatte. Und wie die Untertanen zu Bürgern wurden, die plötzlich Errungenschaften wie das Frauenwahlrecht erleben durften", sagt Stadtarchivar Franz Haselbeck, der die Ausstellung zusammen mit Judith Bader (Städtische Galerie Traunstein) erarbeitet hat.

Der Zeitbogen spannt sich von Ludwig II. bis in die Weimarer Republik. Die Entwicklung wird nicht chronologisch dargestellt, sondern in Themenblöcken, wobei der Ausgang jeder Erzählung der Großbrand vom April 1851 ist, der die Altstadt zerstörte. "Traunstein, das schöne Traunstein liegt in Asche!", meldete der Münchner Volksbote. Es war eine Katastrophe, die bis ins frühe 20. Jahrhundert nachwirkte.

Der Untergang der Monarchie und die Revolution in Bayern werden meistens anhand der Ereignisse in München nachgezeichnet. In Traunstein wird gezeigt, welche Spuren der Umbruch auf dem Land hinterließ. Auf die Frage, warum nicht alles im Chaos versank, findet die Ausstellung überzeugende Antworten. Als Stabilisator in Traunstein erwies sich Bürgermeister Georg Vonficht. Schon am 8. November 1918, als in München gerade die Revolution entflammte, richtete er einen Appell an die Einwohnerschaft: "In der Hauptstadt Bayerns vollziehen sich zur Zeit große politische Umwälzungen. Wie die Ereignisse sich auch weiter abspielen mögen, für uns in Traunstein heißt das Gebot der Stunde: Einigkeit, Ruhe und Ordnung." Priorität hatten in Städten wie Traunstein der Fortgang der Lebensmittelversorgung und die Vermeidung von Gewalt, die ja im revolutionären München ausufern sollte.

Zwar bildeten sich auch hier Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte, und am 24. Februar 1919 flatterte am Rathaus sogar die rote Fahne der Revolution. Im Gegensatz zum Staat wurden aber in vielen Kommunen die Inhaber der politischen Macht nicht abgelöst. Vonficht band die revolutionären Organe in seine Arbeit ein. Bis dann die Revolution erlosch und die Einwohnerwehr am 2. Mai 1919 die Soldatenräte verhaftete. Die konservativen Kräfte hatten sich behauptet.

Dass Traunstein nicht abgehängt wurde, lag auch an der Bahnlinie von München nach Salzburg

Die "goldenen 20er-Jahre" erreichten zwar in Traunstein beileibe nicht jene pulsierenden Zuckungen der Hauptstadt Berlin, aber 1926 feierte man immerhin ein gewaltiges Jubiläumsfest zum 800-jährigen Bestehen der Stadt. Auch wenn der Termin datierungsmäßig auf tönernen Füßen stand, wie Haselbeck sagt. Nach schlimmen Jahren wurde es das größte Fest, das die Stadt jemals erlebt hat.

Dass Traunstein damals nicht abgehängt wurde, lag nicht zuletzt an der im Jahr 1860 eröffneten Bahnlinie von München nach Salzburg. Der Bahnhof verankerte die alte Handelsstadt auf der Karte des 1871 errichteten Deutschen Reichs. Aber auch in den Kleinstädten veränderten sich beständig Normen, Werte und Lebensmodelle. 1900 lebten in Traunstein 6845 Einwohner. Darunter waren 324 Protestanten und 10 "Israeliten", die in der gewachsenen katholischen Dominanz ihren Platz suchten. Noch gab es Hunderte Pferde, Rindviecher und Schweine. Die schwindenden Zahlen belegen aber eine schon damals rückläufige Bedeutung der Landwirtschaft.

Vieles von dem, was die Stadt heute ausmacht, wurzelt in dieser Epoche: der Aufbau der Schulen, der Handels- und Gewerbeorganisationen sowie der Versorgung mit Strom, Gas und Wasser. Parallel dazu entstand ein florierendes Kultur- und Vereinsleben. 1891 wurde etwa der St.-Georgs-Verein gegründet, der eine alte Pferdewallfahrt zur Ettendorfer Kirche neu belebte. Der Traunsteiner Georgiritt wurde 2017 in das Bundesverzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der Unesco aufgenommen.

Soziale Spannungen begleiteten den Alltag unentwegt. Der systematisch geschürte Neid auf den Erfolg jüdischer Unternehmer führte alsbald zu antisemitischen Pamphleten und Gewalttaten. Nicht zu leugnen ist auch, dass viele Handwerker, Kleinbauern und Dienstboten, die voller Hoffnung in die Stadt zogen, in der Armut des Proletariats landeten. Gerade hier zeigt sich, dass die Hilflosigkeit der Politik ein zeitunabhängiges Phänomen ist. Der Prinzregent Luitpold gewann zwar damals mit seiner Leutseligkeit die Herzen der Untertanen, deren Probleme löste er nicht. Mit ihrer Passivität und Weltfremdheit hatte die Monarchie letztlich ihrem Untergang nichts mehr entgegenzusetzen.

"Untertanen! Bürgerinnen und Bürger!" Leben in Traunstein zwischen Monarchie und Demokratie im Spiegel von Kunst und Kultur. Städtische Galerie Traunstein, Ludwigstr. 12, bis 26. September, Mittwoch bis Freitag 11-17 Uhr; Samstag, Sonntag und Feiertag 13-18 Uhr. Tel. 0861/164319.

© SZ vom 01.09.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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