Krankenkassen-Report:"Ich bin froh, dass mich jemand auf meine Sucht angesprochen hat"

Lesezeit: 3 min

  • 650 000 Arbeitnehmer im Freistaat trinken einer Studie zufolge zu viel Alkohol.
  • Gut jeder Fünfte der rund 6,9 Millionen Beschäftigten im Freistaat raucht, knapp vier Prozent "dampfen" E-Zigaretten.
  • Hinzu kommen die sogenannten neuen Süchte: Die Studie hat auch Abhängigkeiten von Computerspielen und sozialen Medien untersucht.

Von Dietrich Mittler, München

Schnell noch ein Bier vor der Fahrt in die Disco. Feuchtfröhliche Vereinsabende und Kartler-Runden. Hier und da einen Schluck, um den Ärger über den verspäteten Zug wegzuschwemmen. Jürgen Oberhofer, aufgewachsen im Oberland, ist seit seiner Jugend alkoholsüchtig. Die erste Ehe scheiterte deshalb; im Betrieb sprachen ihn schließlich seine Vorgesetzten auf die Sucht an. Es sei nun höchste Zeit, einen Entzug zu machen, andernfalls drohe eine Abmahnung und letztlich gar die Kündigung. "Ich hatte mehr als einen Schutzengel", sagt der 56-Jährige heute. Trockener Alkoholiker zu sein, das bedeutet, stetig auf der Hut zu bleiben.

"Ich bin froh, dass mich jemand auf meine Sucht angesprochen hat", sagt Oberhofer ( Name geändert). Aufgefallen war er den Kollegen dadurch, dass er - zurück von den Arbeitspausen - nach Alkohol roch. Ein Einzelfall? Oberhofer schüttelt den Kopf. Er kenne genug andere Beispiele aus seinem Bekanntenkreis. Neueste Zahlen belegen seinen subjektiven Eindruck. Der Gesundheitsreport 2019 der Krankenkasse "DAK Gesundheit" hat die Auswirkungen von Sucht auf das Arbeitsleben in Bayern untersucht - basierend auf den Versichertendaten der Kasse.

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Als grundlegende Erkenntnis ergab sich bei der Auswertung: Der Krankenstand bei an einer Sucht leidenden Erwerbstätigen sei mehr als doppelt so hoch. "Suchtprobleme im Job sind kein Nischenthema", sagt Sophie Schwab, die Landeschefin der DAK in Bayern. "Unser Report zeigt, dass viele Erwerbstätige in Bayern abhängig oder suchtgefährdet sind, beziehungsweise ein suchtgefährliches Verhalten aufweisen", betonte sie am Donnerstag in München. So trinken laut Studie circa 650 000 Arbeitnehmer im Freistaat zu viel Alkohol. Verglichen dazu spielen die nicht legalen Drogen wie etwa Heroin rein statistisch gesehen eine untergeordnete Rolle.

Schwabs Fazit: "Der riskante Umgang mit Alkohol bleibt ein zentrales Problem in unserer Gesellschaft, das auch gravierende Folgen für die Arbeitswelt in Bayern hat." Aber längst nicht nur im Freistaat, wie die bundesweite Aktionswoche "Kein Alkohol am Arbeitsplatz" zeigt, die noch bis zum Sonntag andauert und Interessenten unter anderem Selbsttests sowie auch praxisnahe Tipps für Führungskräfte anbietet, deren Mitarbeiter zur Flasche greifen ( www.aktionswoche-alkohol.de). Denn klar ist, Alkohol am Arbeitsplatz hat auch für die Betriebe ernste Folgen - durch sinkende Arbeitsleistung, Fehler und sogar Unfälle.

Doch der Titel des neuen DAK-Gesundheitsreports "Sucht 4.0 in Bayern - Trinken, Dampfen, Gamen in der Arbeitswelt" macht deutlich, dass es längst nicht nur um Alkohol geht. Knapp 1,2 Millionen Arbeitnehmer in Bayern sind tabakabhängig, 380 0 00 Beschäftigte gelten mittlerweile als "riskante Gamer", davon sind 86 000 bereits süchtig. Riskant heißt auch, dass nicht wenige Computerspieler selbst während der Arbeitszeit wegen des Spielens unkonzentriert bei der Arbeit sind. Im schlimmsten Fall kostet dies Menschenleben, wie etwa 2016 beim Zugunglück im oberbayerischen Bad Aibling mit zwölf Toten. Damals hatte der verantwortliche Fahrdienstleiter auf dem Handy gespielt.

Wer süchtig ist, riskiert oft Partnerschaft und Arbeitsplatz

Wenig öffentliche Beachtung finden indessen die persönlichen Katastrophen, die mit der Spielsucht einhergehen. Uwe Leitner (Name geändert) ist dafür ein Beispiel. Auch bei ihm zerbrach durch die Sucht eine Partnerschaft. Im Gegensatz zu Jürgen Oberhofer wird der in der Oberpfalz lebende Mittzwanziger aber immer wieder rückfällig und muss aufpassen, dass er seine finanzielle Existenz nicht gefährdet. Leitner ist glückspielsüchtig, seine Probleme sind eigentlich eine Kategorie für sich. Doch die neue DAK-Studie zeigt auf, dass "die Grenze zwischen Videospiel und Glücksspiel verwischt". Dies liegt an den "Loot Boxen", von denen sich die Spieler für echtes Geld virtuelle Ausrüstungsgegenstände erwerben können, die "bisweilen sogar für den Erfolg im Spiel unentbehrlich sind".

Uwe Leitner, der Glücksspieler, versucht unentwegt, die Folgen seiner Spielsucht einzudämmen - zum Teil gelingt ihm das sogar. Um im Internet erst gar nicht Geld verspielen zu können, hat er zum Beispiel sein Paypal-Konto gelöscht. Doch weiß er auch: Er muss die Ursachen seiner Sucht ergründen, und das geht nur durch eine langjährige Therapie. Wohnortnahe Ansprechpartner finden sich etwa auf der Homepage der Landesstelle Glücksspielsucht.

Suchtexperten, auch das geht aus dem neuen DAK-Bericht hervor, beschäftigen sich unterdessen verstärkt mit der Frage, ob nicht auch die sogenannten sozialen Medien wie etwa Facebook ein Suchtpotenzial besitzen. "Neben Alkohol- und Tabakabhängigkeit haben internetbezogene Störungen eine große Bedeutung für die Arbeitswelt", betont etwa Kai W. Müller von der Mainzer Ambulanz für Spielsucht. Doch die Forschung steht erst am Anfang. "Bisher hat die Abhängigkeit von sozialen Medien keine Anerkennung als Krankheit gefunden", heißt es im DAK-Report. Offensichtlich aber können auch durch soziale Medien Abhängigkeiten entstehen, die Entzugserscheinungen zur Folge haben. "Betroffene fühlen sich schlecht, wenn sie soziale Medien nicht nutzen können", zitieren die Autoren des DAK-Reports aus Studien.

Auch Raucher "mit körperlicher Abhängigkeit" berichten über Entzugserscheinungen bei einem Rauchstopp. Etwa von "Reizbarkeit und Ruhelosigkeit" bis hin zu Schlafstörungen und depressiven Symptomen. Nicht wenige Raucher starten Versuche, von der Zigarette wegzukommen, so wie etwa Alexander Steiner (Name geändert). Er kaufte sich Nikotin-Kaugummis, merkte aber schnell: "Man entwöhnt sich damit nur vom Ritual, zur Zigarette zu greifen, aber nicht vom Nikotin." Mittlerweile raucht er wieder. "Ich muss einen klaren Schnitt machen", weiß Steiner heute.

Jürgen Oberhofer hat diesen Schnitt gewagt. Seit 13 Jahren hat er jetzt keinen Schluck Alkohol mehr getrunken. "Von diesen 13 Jahren", so sagt er, "habe ich noch keinen Tag bereut." Und sein Arbeitsplatz? Der blieb ihm erhalten.

© SZ vom 24.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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