Verträumt, müde, abwesend. So trifft man an einem Montagmorgen viele Schülerinnen an, auch in der 6a der Maria-Ward-Mädchenrealschule in Schrobenhausen. Doch statt direkt in den Mathe- oder Englischunterricht geschickt zu werden, sitzen die Schülerinnen mit ihrer Klassenlehrerin Ulrike Neumair gemütlich in einem Kreis, "Weltbegegnung" heißt das Ritual. Die Mitte ist mit einer Bibel, bunten Tüchern oder einem grünen Ballon mit Lachgesicht dekoriert.
Heute startet die Klasse mit dem Gang nach Emmaus in den Unterricht, einer biblischen Geschichte. Doch auch andere Themen sind im Morgenkreis üblich: Aktuelles aus der Welt und der Stadt oder Persönliches. Diese "Weltbegegnung" findet für alle Klassen statt und ist Teil des Afra-Konzepts des Schulwerks der Diözese Augsburg. Stellvertretend für alle Einrichtungen der Stiftung hat sich die Mädchenschule in Schrobenhausen für den Deutschen Schulpreis beworben; und steht nun dank des Konzepts als eine von zwei bayerischen Schulen in der finalen Runde.
Schüler-Lehrer-Beziehung entscheidend
Afra, das steht einerseits für die Schutzpatronin von Augsburg, andererseits für "alternative, fürsorgliche, religiöse und annehmende" Schule. Mit der Planung des Programms hat das Schulwerk vor etwa vier Jahren begonnen, nachdem einzelne Schulen eigenständig Komponenten entwickelt hatten. Diese wollte man in einem Modell vereinen. Schrobenhausen startete vor zweieinhalb Jahren als Pilotprojekt mit Afra. Dabei stehen die Jugendlichen im Fokus, der Umgang zwischen Lehrkraft und den Kindern soll vertraut und eng sein. "Ich bin der Überzeugung, dass die Beziehung zwischen Schülern und Lehrer die Grundkonstituente von gelingender Schule ist", sagt Peter Kosak, Direktor des Schulwerks in Augsburg.
Um diese zu stärken, sind in den Afra-Klassen Biologie, Religion, Geografie und Geschichte im Fach Netzwerk (NeWe) zusammengelegt; ab der neunten Klasse kommt zusätzlich Politik und Gesellschaft dazu. Die Klassenleitung unterrichtet diesen Bereich acht Stunden die Woche. "Anders als bei einem Nebenfach mit zwei Wochenstunden bekommt man so einen ganz anderen Zugang zu den Kindern", sagt Klassenlehrerin Neumair.
Für die 6a findet nach dem Morgenkreis direkt eine NeWe-Einheit statt. Vier Schülerinnen tragen in einem Rollenspiel das Bibel-Ereignis von Emmaus vor. Gemeinsam diskutiert die Klasse die Bedeutung der Begegnung der zwei Jünger mit dem auferstandenen Jesus. In den nächsten Wochen werden die Schülerinnen die Geschichte aus anderen Blickwinkeln beleuchten, sich beispielsweise anschauen, wie eine Dattelpalme (Bio) aufgebaut ist und darüber sprechen, wo Emmaus eigentlich auf der Landkarte liegt (Geografie).
Laura, Franziska und Katrina sind bereits in der zehnten Klasse. Alle drei besuchten zuvor eine andere Schule und können den NeWe-Unterricht daher mit der üblichen Lehre vergleichen. "Normalerweise würde man zum Beispiel in Geschichte den Holocaust im Februar machen, das Judentum in Reli aber schon im Oktober", sagt Franzi. "In NeWe ist alles kompakter und man kann sich viel mehr unter den Themen vorstellen." Außerdem könne man sich die Inhalte besser merken, da man nur für ein Fach lernen muss, so Katrina.
"Ersatz-Mamas" für die Kleinen
Während die älteren Mädels an einem Projekt zu Organspenden weiterarbeiten, geht es für die 6a in die digitale Lernwerkstatt (DLW). Alle Fünft- und Sechstklässlerinnen arbeiten dabei selbständig auf ihren iPads an ihren Aufgaben für verschiedene Fächer. Neben den anwesenden Lehrern bekommen die Kinder zusätzlich Unterstützung von pädagogischen Fachkräften. Dadurch soll der fürsorgliche Charakter des Schulkonzepts gestärkt werden. Birte Schäfer ist in Schrobenhausen sowohl Lehrerin als auch pädagogische Fachkraft. Als solche sei sie "Ersatz-Mama" und "Kummerkasten-Tante": "Vor allem die Kleineren kommen mit persönlichen Problemen zu uns. Viele haben zu Hause niemanden zum Reden", sagt Schäfer.
Sobald die Schülerinnen in der DLW fertig sind, füllen sie ihre Lerntagebücher aus. Dort können sie auch festhalten, wie motiviert sie an diesem Tag waren. "Das Reflektieren ist hier ein zentraler Aspekt", sagt Schulwerk-Direktor Kosak. "Ich schreibe nicht nur eine Ex und dann ist das Ding abgeschlossen, sondern mache mir das Gelernte bewusst."
Zentral sind dabei die vier K (Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken), mit denen sich junge Menschen auf dem modernen Arbeitsmarkt besser behaupten können sollen. Das Vier-K-Modell für das Lernen in einer digitalen Welt schwappte 2013 aus den USA nach Deutschland, spielt hierzulande jedoch meist keine Rolle.
"Wenn wir in den Abschlussprüfungen Kollaboration und Kommunikation abprüfen würden, wäre das nach heutigem Stand Betrug", so Kosak. In den Noten spiegelt sich die alternative Lehrmethode also nicht wider. Trotzdem ergeben sich für Afra-Absolventen Vorteile: "Bei Unternehmen haben unsere Schülerinnen ein ganz anderes Standing", resümiert Frank Puschner, Schulleiter der Maria-Ward-Realschule. Durch die Projektarbeit würden sich die Jugendlichen lösungsorientierter mit Problemen auseinandersetzen. Das sei beim Bewerbungsgespräch oder im Assessment-Center bemerkbar.
Wegen dieser positiven Rückmeldungen wünscht man sich im Verband des katholischen Schulwerks fundamentale Änderungen. Christian Schwarz ist Schulleiter der St. Ursula-Realschule in Augsburg. Er moniert, dass sich die Prüfungen in den vergangenen Jahrzehnten kaum verändert hätten, während die Anforderungen an junge Menschen ganz andere geworden seien. "Zeugnisse müssen genauer und Personen mit Worten beschrieben werden", so Schwarz. Kosak fasst das Problem so zusammen: "Wir tun immer so, als wären Noten aussagekräftig. Das sind sie nicht." Die Schulen seien in diesem Bewertungssystem gefangen. "Mit dem Afra-Konzept dehnen wir die Grenzen aber bis kurz vor dem Platzen aus", so Kosak.
Ob die Jury des Deutschen Schulpreises diesen Grenzgang für nachahmenswert hält, wird sich dann bei der Verkündung der Gewinner im Herbst zeigen.