Am 10. Juni 1886, drei Tage vor seinem mysteriösen Tod im Starnberger See, hat König Ludwig II. einen höchst bemerkenswerten Brief an seinen Vetter Prinz Ludwig Ferdinand geschickt. Er klingt wie ein verzweifelter Hilferuf. Dieses Schreiben, das der Wittelsbacher Ausgleichsfonds von einem Angehörigen des Hauses Wittelsbach erwarb, war Ludwigs letzter Brief überhaupt.
"Denke Dir was Unerhörtes heute geschehen ist!!", schrieb er ganz verstört. "Diese Nacht kam eilends einer vom Stallgebäude herauf u. meldete, es wären mehrere Menschen (darunter horribile dictu) ein Minister und eine meiner Hofchargen in aller Stille angekommen, . . . u. wollten mich zwingen nach Linderhof zu fahren, offenbar u. mich dort gefangen zu halten u. . . . Abdankung zu ertrotzen, kurz eine schändliche Verschwörung!"
König Ludwig II.:Unvergessen und missverstanden
Auch zum 129. Todestag von Ludwig II. pilgern mehr als hundert Menschen zur Votivkapelle in Berg. Die Fans des "Märchenkönigs" halten dem unter mysteriösen Umständen gestorbenen Monarchen unverdrossen die Treue.
Diese Zeilen enthalten, historisch betrachtet, eine kleine Sensation. Der Inhalt widerlegt nämlich die von dem damaligen Irrenarzt Dr. Gudden und dessen Kollegen vertretene Annahme, Ludwig sei in den letzten Tagen seines Lebens paranoid gewesen. Der Brief belegt zweifelsfrei, dass der König zu diesem Zeitpunkt die Ankunft einer Staatskommission, die ihm seine Entmündigung mitteilen sollte, klar erkannt hatte. Er ersuchte seinen Vetter deshalb flehentlich, sich in München nach dem Stand der Dinge zu erkundigen.
"Wie kann eine solche Infamität nur möglich sein!!", klagt Ludwig, der sich heftig beschwert, "daß ich über absichtlich mit Geld herumgestreute Gerüchte über mich (angebliche Krankheit) an der nicht eine Sylbe wahr ist gehört habe." Er verdächtigte seinen Onkel, Prinz Luitpold, den späteren Prinzregenten, der Verschwörung.
Der König erkennt die Gefahr, deutet sie aber falsch
Diese Zeilen zeigen auf, dass Ludwig II. geistig in der Lage war, die ihm drohende Gefahr zu sehen. Das bestätigt auch Gerhard Immler, Leitender Archivdirektor am Bayerischen Hauptstaatsarchiv, einer der besten Kenner des Ludwig II.-Nachlasses.
Allerdings habe der König seltsam reagiert, sagt Immler. Es gelang ihm nicht, die für ihn richtigen Schritte einzuleiten. Er hat die Lage, in der er sich befand, missgedeutet. "Er bewertete die Vorgänge nicht vor dem Hintergrund der Verfassung, sondern wohl als Akt eines Königsdramas à la Shakespeare", sagt Immler.
Was sich zwischen dem 9. und 12. Juni 1886 abspielte, erinnere an eine Bauerntheater-Inszenierung, an eine volkstümliche Grotesk-Tragödie vor den Kulissen des Weißen Schlosses, beschrieb der Historiker Hermann Rumschöttel einmal den Kern des Dramas. Die wegen seiner bevorstehenden Absetzung nach Neuschwanstein gereiste erste Regierungskommission unter Friedrich Freiherr von Crailsheim, dem Minister des Äußern, scheiterte am Widerstand von Gendarmen, Feuerwehr und königlichem Personal. Der König ließ sie verhaften.
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Nach einigen Stunden wurde die Kommission wieder freigelassen. Am 11. Juni erschien eine zweite Kommission unter der Leitung des Arztes Bernhard von Gudden. Ludwig hatte sich zwischenzeitlich mit seinem Flügeladjutanten Alfred Graf Dürckheim-Montmartin beraten, der ihm vorschlug, sich eiligst nach München zu begeben und sich an seine Untertanen zu wenden.
Diese Idee wies Ludwig ebenso zurück wie den Vorschlag, nach Tirol zu fliehen. Ihm fehlte jede Kraft zum Widerstand. "Um meinetwegen soll kein Blut vergossen werden", sagte er.
Aus dem Brief geht überdies hervor, auch das ist neu, dass Ludwigs Entführung aus Neuschwanstein ursprünglich einen anderen Verlauf nehmen sollte. Demnach sollte er von der ersten Fangkommission nach Linderhof gefahren werden. In diesem Fall wären die Geschichte und der Mythos anders verlaufen. Ludwig II. wäre nicht unter ungeklärten Umständen im Starnberger See ertrunken.
"Dass er dann nach Berg gebracht wurde, scheint an Dr. Gudden zu liegen", vermutet Immler. Gudden hatte sich doch noch durchgesetzt und die Leitung der zweiten Regierungskommission übernommen. Er und einige Kollegen hatten dem König zuvor eine unheilbare Geisteskrankheit attestiert, eine Paranoia (Verrücktheit). Gudden hielt Ludwig auch deshalb für "originär geisteskrank", weil er die Konzeption einer Seilbahn über den Alpsee verfolgte.
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Hunderte Menschen erinnern am Starnberger See an den Todestag von König Ludwig II. Ein Forscher hat schon im Vorfeld für Aufsehen gesorgt: Er will den Leichnam des Kinis untersuchen.
Dass die Gutachter sich in mehreren Punkten geirrt hatten, gab einer von ihnen später zu. Man habe einen Tobsüchtigen erwartet, wogegen Ludwig bei und nach seiner Festnahme sich ruhig und vernünftig verhalten habe. "Wie können Sie mich für geisteskrank erklären, Sie haben mich ja gar nicht vorher angesehen und untersucht?", fragte der König Gudden, der seine Entmündigung per Ferndiagnose betrieben hatte.
"Majestät, das war nicht nothwendig; das Aktenmaterial ist sehr reichhaltig und vollkommen beweisend, es ist geradezu erdrückend", antwortete Gudden laut einer Mitschrift des Gesprächs. Der König wurde dann, qualvoll eingesperrt, nach Schloss Berg am Starnberger See transportiert, wo er am 12. Juni 1886 mittags eintraf. Fünf Tage vorher hatten fünf Minister und der Ministerpräsident seine "lückenlose Internierung" verfügt.
Der Staatsstreich als Treppenwitz der Geschichte - mit unerwarteter Pointe
Der Politiker Peter Gauweiler, ein profunder Ludwig II.-Kenner, ist davon überzeugt, "dass die exekutiven Träger der Staatsaktion eigentlich alles missachtet, gebeugt und gebrochen haben, was zu dieser Zeit im Deutschen Reich und im Königreich Bayern Recht war".
Dem König seien in keiner Phase dieses Verfahrens irgendwelche Rechte oder Verteidigungsmittel zugestanden worden, die nach damaliger Rechtslage in Bayern im Entmündigungsverfahren für jedermann selbstverständlich waren.
Für Gauweiler war es ein hochverräterischer Staatsstreich, begangen von Ministern, die um ihr Amt fürchteten. So betrachtet, spielt es für Gauweiler keine Rolle, ob Ludwigs Tod am Abend des 13. Juni 1886 bei einem Fluchtversuch geschah oder durch Selbstmord. "Die Minister haben ihn auf dem Gewissen. Wer den König gegen Recht und Gesetz verschleppen und einsperren lässt, trägt Mitschuld an dessen Tod bei der Flucht", schrieb er in einem Aufsatz über Ludwig II.
Der Treppenwitz an der Geschichte ist, dass der König gerade wegen dieser tragischen Umstände zu einer Ikone der bayerischen Geschichte geworden ist.
Gauweiler weist diesbezüglich gerne darauf hin, dass in den Ammergauer Alpen alljährlich zu Ludwigs Geburtstag am 25. August ein riesiges Feuer auf den Berggipfeln entzündet wird. "Für welche geschichtliche Person in Deutschland gibt es das noch?"