Junge Juden:"Ich fände es einfach schade, wenn das Jüdische verloren ginge"

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Levi Israel Ufferfilge ist gläubiger Jude und zeigt das mit seiner Kippa, Galina Serebnitskaya erlebt das Judentum vor allem als eine Gemeinschaft Gleichgesinnter. (Foto: Stephan Rumpf)

Die Mehrheit der in Bayern lebenden Juden ist älter als 50 Jahre. Mehr und mehr aber prägt die neue Generation das Gesicht der Gemeinden - nicht nur bei der Religion.

Von Veronika Wulf

Levi Israel Ufferfilge betritt wie jeden Morgen das jüdische Gemeindezentrum am Münchner Sankt-Jakobs-Platz. Er trägt ein geblümtes Hemd, Stoffhose und weinrote Schnürschuhe. Dazu einen Fünftagebart und einen Rucksack wie ihn junge Leute eben tragen. Doch das Kleidungsstück, das die Blicke und manchmal auch die Probleme auf sich zieht, ist ein anderes: die Kippa, heute eine rote, passend zu den Schuhen. Ufferfilge spürt sie oben am Hinterkopf, obwohl sie jeden Tag dort sitzt. Sie erinnere ihn daran, diszipliniert zu sein, sagt er, ethisch richtig zu handeln. Er trägt sie aber auch, damit andere sehen, dass er religiös ist. Dass er Jude ist.

In Bayern leben etwa 18000 Juden, die meisten sind älter als 50. Doch welche Rolle spielt das Jüdischsein für junge Menschen? Levi Israel Ufferfilge, 30, und Galina Serebnitskaya, 21, sind zwei von ihnen. Er ist konservativer Jude, sie liberale Jüdin. Er feiert den Sabbat und isst koscher, sie nicht. Sie zeigen das breite Spektrum jüdischen Lebens in einem Land, in dem ihre Vorväter ermordet wurden. Ihr Alltag unterscheidet sich von dem junger Christen oft kaum. Manchmal aber macht dieser Alltag auch deutlich: Es ist noch immer gefährlich, diesen Glauben offen zu zeigen.

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"Ich liebe unsere Traditionen, die Rituale, die Texte, die Gedanken, die Gemeinschaft", sagt Ufferfilge. "Ich mag jüdische Menschen, die Gemeinschaft", sagt Serebnitskaya. "Ich bin gerne Jüdin."

"Shalom, Herr Levi" rufen Kinder mit Schulranzen, als Ufferfilge im Gemeindezentrum hinüber zum Schulflügel geht. Seit drei Monaten ist er Religionslehrer am Jüdischen Gymnasium, das erst 2016 gegründet wurde und deshalb bisher nur zwei Klassen führt. Eigentlich wollte sich Ufferfilge nur in der Gemeinde anmelden, nachdem er nach München gezogen war. Als einen der Nachweise, dass er Jude ist, legte er seine Religionslehrerlaubnis bei. Es dauerte nicht lange und Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, bot ihm eine Stelle an.

"Schma Jisrael", singen die Kinder beim Morgengebet, die Hände vor dem Gesicht, und als der Schlusston verstummt ist, sagt Ufferfilge: "Mega gut! Das war wirklich schön, habt ihr das gemerkt?" Danach hat die sechste Klasse Religion. Ufferfilge schreibt verschiedene Strömungen im Judentum an die Tafel und spielt den Kindern Musik vor, die sie einordnen sollen. "Maserati", ruft eine Schülerin. Ufferfilge schmunzelt. "Masorti meinst du" - eine konservative Strömung, zwischen liberalem und orthodoxem Judentum - "Maserati ist ein Auto." Dann sollen die Schüler sich selbst verorten. "Wir sind eigentlich orthodox, nur meine Mutter und ich sind liberal", sagt eine Schülerin, "wir sind eher so Reform", ein Schüler. Fast alle Kinder sind jüdisch an diesem Gymnasium, aber auch andere werden aufgenommen. Ufferfilge wertet die Strömungen nicht. Er erklärt sie nur. Die Schüler sind ruhig, melden sich viel. Sie scheinen ihn zu mögen, vielleicht weil er so jung ist und selbst vorlebt, wie man die Religion, ihre Rituale und Traditionen, mit einem modernen Leben zusammenbringt.

Als Ufferfilge selbst so alt war wie seine Schüler, unterrichtete ihn in seiner Heimatstadt Minden bei Bielefeld ein orthodoxer Hauslehrer: biblisches und talmudisches Hebräisch, jüdische Traditionen, Rituale, Lehren - am Nachmittag nach der Schule, von der dritten bis zur 13. Klasse. "Meine Familie wollte, dass ich in meinem Judentum genauso zuhause bin wie in der modernen Welt", sagt Ufferfilge nach dem Unterricht im Lehrerzimmer. Er will, dass auch seine Schüler ihre jüdische Identität in einer nichtjüdischen Umwelt behaupten können. "Wir haben in diesem Land ein großartiges jüdisches Erbe", sagt er, das die Shoah jedoch fast völlig zerstört habe. "Ich fühle die Verantwortung, dabei mitzuhelfen, Verlorenes wiederzuentdecken und zu versuchen, durch Bildung und Alltag an das Erbe anzuschließen."

Auch Galina Serebnitskaya spricht vom Bewahren und Wiederbeleben. Deshalb engagiert sie sich in der jüdischen Gemeinde in Augsburg. Sie gibt ehrenamtlich Musikunterricht in der Synagoge und ist gerade dabei, einen Makkabi-Verein, einen jüdischen Sportverein, zu gründen. Obwohl sie nicht sehr religiös ist, wie sie sagt. Sie geht nur zu den Feiertagen in den Gottesdienst, wie es viele Christen tun, doch sie sagt auch: "Ich fände es einfach schade, wenn das Jüdische verloren ginge. Wir sind sowieso schon so wenige."

Die junge Frau mit den langen, schwarzen Haaren war acht Jahre alt, als sie mit ihrer Familie aus dem ehemals sowjetischen Usbekistan nach Augsburg kam. In Usbekistan hatte das Jüdischsein für sie keine Rolle gespielt. Hier schon: Erst besuchte sie die Jugendgruppe der Gemeinde, jetzt leitet sie selbst ehrenamtlich Sommercamps. Sie fand hier zum Judentum, wenn man so will. Jedoch weniger zum Judentum als Religion, sondern mehr als Kultur, als Gemeinschaft - eine russische Gemeinschaft, denn die meisten der etwa 1300 Gemeindemitglieder in Augsburg kamen ebenfalls aus der ehemaligen Sowjetunion oder sind Kinder von Einwanderern.

Russisch spricht Serebnitskaya auch mit den vier Kindern, die an einem Sonntagmorgen vor ihr in einem Raum der Augsburger Synagoge auf und ab hüpfen. Die Wände sind gelb gestrichen, auf einer tanzt eine Ballerina im blauen Rock. "Ras, dwa, tri", zählt Serebnitskaya vor und zeigt die Schritte für den Tanz, den die Kinder bald vorführen. Am Wochenende bietet der Bildungsverein Credo hier Kurse an für Kinder, nicht alle sind jüdisch, aber alle sprechen Russisch. Der Verein darf zwar die Räume der Synagoge nutzen und arbeitet eng mit ihr zusammen, ist aber nicht dezidiert jüdisch. An den Türrahmen hängen Mesusot, längliche Kapseln, in denen ein Stück Pergament mit dem jüdischen Glaubensbekenntnis steckt.

Normalerweise singt Serebnitskaya mit den Kindern, doch heute vertritt sie die Tanzlehrerin. Es sind ihre ehrenamtlichen Tätigkeiten, die sie an die Gemeinde binden, auch bei Festen und Veranstaltungen hilft sie mit. Doch ihren Freundeskreis hat sie außerhalb der Gemeinde, Christen und Muslime sind darunter, Juden kaum. Mit Antisemitismus habe sie keine Erfahrungen gemacht, sagt sie. "Aber man sieht ja auch nicht, dass ich Jüdin bin."

Bei Levi Israel Ufferfilge ist das anders. Durch die Kippa ist er für jeden als Jude erkennbar - und angreifbar. Ein Fremder warf ihm vor, er würde Gewalt provozieren durch das Tragen der Kippa. Ein anderer sah Ufferfilge an und machte eine Geste, als wolle er ihm die Kehle durchschneiden. In Düsseldorf, wo Ufferfilge früher wohnte, sei es schlimmer gewesen als in München, dort sei er sogar mit Scherben beworfen und mit Kakao übergossen worden. Doch auch hier meidet er manche Orte zu später Stunde und lässt manchmal seinen zweiten Namen - Israel - lieber weg. Hier seien es nicht, wie andernorts, Nazis oder Araber, die ihn beschimpfen, sondern eher "urbayerische Herren". All diese Alltagserfahrungen als Jude - die schlimmen wie die schönen - schreibt er gerade in einem Buch auf. "Die Allerwenigsten haben mit jüdischen Menschen zu tun", sagt Ufferfilge. "Es gibt da eine Kombination aus Unwissen und Unbehagen."

Am Ein- und Ausgang des Gemeindezentrums stehen eine Sicherheitsschleuse und Wachleute. Der Pausenhof liegt auf dem Dach, wenn die Schüler auf den Spielplatz nebenan gehen, begleitet sie die Polizei. "Nervig", sagt Ufferfilge, "aber leider notwendig." Ganz selbstverständlich ist das jüdische Leben noch nicht in Bayern. Ufferfilge trägt seine Kippa trotzdem.

© SZ vom 28.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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