Inzestfall in Mittelfranken:Wenn die Verantwortung diffus ist

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Der Vater soll seine Tochter missbraucht und Kinder mit ihr haben - und offenbar wusste das ganze Dorf davon. Doch warum hat niemand etwas gegen den Inzest unternommen? Psychologin Sandra Loohs über die Sehnsucht nach Idylle und wie man dem Opfer hätte helfen können.

Ulrike Heidenreich

Getuschel und Gerede, aber keiner greift ein. Gerade in dörflichen Strukturen blende man Missbrauchsfälle aus, um das Bild der intakten Gemeinschaft aufrechtzuerhalten, sagt die Münchner Psychologin Sandra Loohs. Sie ist öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige für forensische Psychologie sowie Lehrbeauftragte an der Universität Regensburg.

Im mittelfränkischen Willmersbach soll ein Mann seine Tochter 34 Jahre lang missbraucht haben. (Foto: dpa)

Ein Vater missbraucht seine Tochter über Jahrzehnte, sie gebärt drei Kinder von ihm - und ein ganzes Dorf schaut zu. Warum unternimmt niemand etwas?

Es gibt hier den Begriff der Verantwortungsdiffusion. Es gilt als gut belegtes und eingehend untersuchtes Phänomen, dass, je mehr Personen etwas mitbekommen, umso geringer die Wahrscheinlichkeit wird, dass der Einzelne handelt. Bei Schlägereien in der U-Bahn kann das greifen, wenn niemand einschreitet. Oder der Fall, als ein Kind vor einigen Jahren im Olympiasee in München ertrunken ist: Der See ist nur einen Meter tief und es standen zehn bis 15 Erwachsene am Ufer, aber keiner ist hineingegangen, um das Kind zu retten. Jeder denkt, der andere macht schon etwas. So kann es sich auch in kleinen Dorf-Gemeinschaften zutragen, wenn nebenan sexueller Missbrauch geschieht.

Es gab Spottlieder im Dorf über die Familienähnlichkeit . . .

Dass sich Missbrauchsfälle über Jahre und Jahrzehnte hinziehen, ohne dass Anzeige erstattet wird, ist keine Seltenheit. Wenn man sich solche Fälle wie in Willmersbach anschaut, muss man im Auge behalten, dass wir das rückblickend beurteilen - ausgehend von einem feststehenden Ergebnis, zum Beispiel durch DNA-Proben, die beweisen, dass der Großvater auch Vater der Kinder ist. Wenn aber Nachbarn nur einen Verdachtsmoment hegen, wissen sie nicht genau, ob tatsächlich etwas vorgefallen ist.

Sie müssen also unter großer Unsicherheit entscheiden, ob sie Gerüchten glauben. Der, der handelt, könnte als Unruhestifter gelten. Diese Faktoren erschweren es, zur Polizei zu gehen. Es könnte ja auch eine besonders ausgeprägte Familienähnlichkeit geben. Gerade in Dörfern kennen sich Menschen oft seit ihrer Kindheit, da ist die Hemmschwelle wahrscheinlich noch größer.

Man sieht es und mag nicht genau hinschauen, um das Idyll des heilen Dorfes nicht zu beschädigen?

Aus der Sozialpsychologie kennt man den Begriff der Ingroup-Outgroup-Differenzierung. Unangenehme Dinge wie Missbrauch oder Gewalt verlagert man lieber nach außen und sagt sich: Das findet vielleicht fünf Dörfer weiter statt, aber doch nicht bei uns. Im sozialen Nahraum will man das nicht so gerne haben und blendet es eher aus.

Wie kann ein mutiger Mensch in einem kleinen Dorf trotzdem helfen?

Gerade bei Missbrauchsfällen im innerfamiliären Bereich sind die Betroffenen nicht verpflichtet, vor Gericht oder bei der Polizei Angaben zu machen. Fälle lassen sich nie aufklären, wenn die Opfer nichts sagen. Sinnvoll wäre es, die Person, die man als Opfer vermutet, anzusprechen und zu sagen, dass man sich Sorgen macht und dass man helfen möchte. Das Wichtigste ist in solchen Fällen, direkt auf die Person zuzugehen und zu fragen, ob sie Probleme hat.

Welcher Mechanismus entsteht zwischen Opfer und Täter? Auch in Willmersbach schaffte es die Tochter nicht, sich ihrem autoritären Vater zu entziehen.

Sexueller Missbrauch weist eine eigene Deliktspezifik auf: Es finden deutlich weniger Gewaltandrohungen statt, als man es von außen meinen möchte. Das Kernstück ist subtile Manipulation. Es findet eine Schuldverschiebung statt, das Opfer ist dann selbst davon überzeugt, dass es eine Mitverantwortung trägt. Wenn der Missbrauch sehr früh beginnt, kann das außerdem für die Opfer zum Normalzustand werden, weil sie es nicht anders kennen.

Wenn sich ein körperlich überlegener Erwachsener einem Kind so nähert, kann es sich nicht wehren und macht wiederholt Hilflosigkeitserfahrungen. Diese erlernte Hilflosigkeit tradiert sich ins Erwachsenenalter, die Person bleibt in der Abhängigkeit und lässt den Missbrauch weiter über sich ergehen, obwohl sie eigentlich längst handlungsfähig wäre.

Welche psychotherapeutische Behandlung muss jetzt erfolgen?

Wichtig ist es jetzt, zu schauen, was das Opfer möchte. Will sie psychotherapeutische Hilfe? Viele lehnen das ab, weil sie sich zunächst nicht so intensiv damit auseinandersetzen möchten. Manche schaffen es erst, sich viele Jahre später mit dem Erlebten zu beschäftigen.

© SZ vom 15.09.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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