Gräfenberg:"Am Dorf liefen die Uhren anders"

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Faszination Turmuhr: Dieses Exemplar in Passau ist für Sammler wohl nicht zu erstehen, da im Gebrauch. Den Wert eines solchen Großzeitmessers zu bestimmen ist schwer, hier kommen eher ideelle Gründe ins Spiel. (Foto: Johannes Simon)

Georg Rammensee sammelt Turmuhren. Sie erzählen viel über die Geschichte der Zeitmessung - und über ein imposantes Familienerbe. Ein Besuch.

Von Alena Specht, Gräfenberg

Es tickt. Und tickt. Und tickt. Dann hört es auf. "Das Gewicht ist abgelaufen", sagt Georg Rammensee, greift zu einer Kurbel und zieht die Uhr auf. Es tickt wieder. Die Uhr aus dem Jahr 1888 ist die neuste und wohl die schönste in seiner Sammlung. Das goldene Rad, es erinnert an ein Hamsterrad, hemmt das Gewicht, das dafür sorgt, dass die Uhr läuft und das Pendel schwingt. Georg Rammensee sammelt Turmuhren. Etwa 60 Großuhren aus fünf Jahrhunderten stehen in seiner Scheune im oberfränkischen Gräfenberg. Wer den Sammler besucht, der kann auch durch die Geschichte der Zeit reisen; und zum Beispiel erfahren, wieso die Uhren einstmals in Bayern durchaus unterschiedliche Zeiten anzeigten - sich aber niemand so recht daran stören mochte.

Der Ausgangspunkt für das Hobby war es, das Familienerbe zu erhalten. Der Name Rammensee ist kein unbekannter in der Stadt im Landkreis Forchheim. "1832 kam der erste Rammensee nach Gräfenberg", sagt Georg Rammensee. Dabei handelte es sich um seinen Ururgroßvater. Dieser sei bereits in der fünften Generationen Uhrmacher und ließ sich in Oberfranken als Groß- und Kleinuhrmacher nieder. Der Urgroßvater und der Großvater von Georg Rammensee eröffneten dann 1907 eine Großuhrenfabrik in Gräfenberg. Als der Vater nicht aus dem Krieg heimkehrte, musste der Großvater 1957 die Fabrik schließen und verkaufen. Sein Bruder habe noch den Beruf des Uhrmachers erlernt, aber nie ausgeübt, sagt Georg Rammensee. Er selbst hat im Maschinenbau gearbeitet. Gerne hätte auch er die Uhrmacherei gelernt, aber mit dem Aufkommen der elektrischen Uhr war die mechanische "zum Tode verurteilt". Bis zur Schließung der Turmuhrfabrik gingen mehr als 1600 Uhren in die ganze Welt, sogar bis nach Hongkong. Rammensee hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Hinterlassenschaft seiner Vorfahren wieder zusammenzuführen. Er hat sich auf die Suche nach den historischen Uhren begeben, sie aufgekauft, restauriert - und stellt die Ergebnisse seiner Sammelleidenschaft aus. Manche Funde nennt er "Sechser im Lotto mit Zusatzzahl" und die gesamte Sammlung sein "Lebenswerk".

Manche Funde nennt er einen "Sechser im Lotto mit Zusatzzahl", die Sammlung ist sein "Lebenswerk": Turmuhrexperte Georg Rammensee. (Foto: Alena Specht)

1978 kaufte er die erste Uhr. "Damit habe ich mir die Krankheit geholt und die Auswirkungen dieser Krankheit sieht man hier in der Scheune", sagt der 76-Jährige lachend. Nachdem er die dritte Uhr zuhause in das Schlafzimmer stellen wollte, habe seine Frau ein Veto eingelegt und Rammensee ist mit den Uhren eben in die Scheune gezogen. "Ich habe wohl doch Gene von zehn Generationen Uhrmachern abbekommen." Zeit gebe es schon seit Adam und Eva, sagt Rammensee. "Über die Jahrhunderte wurde die nur immer genauer." Die ersten mechanischen Räderwerke kamen etwa um 1100 auf, erklärt er. Diese Mechanik habe es dann bis in die 1960er Jahre gegeben, "dann war sie endgültig aus". Nach wie vor gebe es vereinzelt mechanische Uhren, das sei aber nicht die Regel. "Die meisten wurden stillgelegt und weggeschmissen."

Um verbliebene Uhren aufzuspüren nahm er Einiges auf sich. Bis er die erste Uhr gefunden hatte, musste er mehr als 50 Kirchen besuchen. Der Großvater habe mit der Schließung der Fabrik auch alles geistige Gut verbrannt, sagt Rammensee. Nur eine Produktionsliste mit Uhren, die zwischen 1903 und 1932 hergestellt wurden, ist erhalten geblieben. Diese ermöglichte Rammensee den Zugang zu Kirchtürmen, Schulen und Fabriken, um dort nach den Uhren zu suchen. Aber mit dem Fund war die Arbeit in der Regel nicht getan. "Manche Uhren waren in einem katastrophalen Zustand", sagt Rammensee. 800 Stunden habe er einmal in die Restauration einer Uhr gesteckt, um die fehlenden Teile originalgetreu und die Funktion wiederherzustellen. "Wenn man mal 60 Uhren auseinandergebaut hat, dann muss man das begreifen. Ich habe mir das als Rentner zu meinem Beruf gemacht."

Von den ausgestellten Großuhren stammen 20 aus der Fabrik Rammensee, 40 von anderen Meistern und Herstellern. Die Sammlung erstreckt sich über zwei Stockwerke. Den Wert einer solchen Uhr zu bestimmen, ist schwer. "Das ist ideell. Es gibt zwar einen Markt für Großuhren, aber das hat mehr Sammelcharakter." Die älteste Uhr aus dem Besitz von Georg Rammensee stammt aus dem Jahr 1470, läuft mit Waaghemmung und misst noch die sogenannte Temporalzeit. Die bis zum späten Mittelalter übliche Zeitmessung teilte den Tag nicht in 24 gleichlange Stunden, sondern richtete sich nach Helligkeit und Dunkelheit. "Zeit war lange ein dehnbarer Begriff." Die Genauigkeit der Zeitmessung hing auch nicht nur vom Baujahr der Uhren ab. "Am Dorf liefen die Uhren anders." In seiner Sammlung beherbergt Rammensee zwei Uhren, beide aus dem Jahr 1851. Die eine stammt aus München und lief am Tag auf eine Minute genau. Die andere stand in einem Dorf. Hier variierte die Zeit noch um zehn Minuten täglich.

Nur eine Uhr in der Scheune ist komplett funktionsfähig, so, "wie sie früher in Kirchen installiert waren". Die Zeigerwelle ist an ein Zifferblatt angeschlossen, die drei Schlagwerke mit unterschiedlichen Glocken verbunden. Mit einer Kurbel zieht Rammensee die Uhr auf, sie beginnt zu ticken. Ist eine Minute abgelaufen, zieht das Hauptgewicht das Hilfsgewicht wieder hoch und der Zeiger auf dem Zifferblatt springt eine Minute weiter. Jede Viertelstunde und zur vollen Stunde schlagen die Glocken. "Die Grundkonstruktion der Uhren ist immer gleich", sagt Rammensee. Sie unterscheiden sich nur in der Verarbeitung und im Ablauf, "da hat jeder Hersteller seine eigenen Tricks gehabt". Auch sonst hat jede Uhr in der Sammlung ihre Besonderheiten. Eine hat ein fünfeinhalb Meter langes Pendel, das über beide Stockwerke reicht, an einer anderen pendelt eine Kanonenkugel. "Man hat mit dem gearbeitet, was es gab", sagt der Sammler und Tüftler.

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Die Scheune birgt aber nicht nur Großuhren, Rammensee scheint einen Sinn für erhaltenswerte Dinge zu haben. Eine Wand ist vollständig mit Regalen voller Ammoniten in allen Größen bedeckt. 250 Exemplare aus 120 verschiedenen Arten und Gattungen repräsentieren die Fossilienwelt des fränkischen Jura. Die Sammlung gehöre einem Freund, sagt Rammensee. Gräfenberg sei reich an Steinen - wie die Uhren gehören die Ammoniten in seinen Augen "zu den Schätzen" der Stadt. In der Ecke gegenüber hängt eine 1,8 Tonnen schwere Glocke aus Stahlguss. Sie stammt aus den Türmen der Gößweinsteiner Basilika. Um sie zu läuten, muss er mit viel Kraft an einem Seil ziehen und die Glocke zum Schwingen bringen. Inzwischen funktionieren die meisten Kirchenglocken längst über einen Elektromotor - auch das hat sich, analog zu den Uhren, geändert.

In den Sommermonaten führt er Besucher regelmäßig durch die Ausstellung und gibt Einblicke in die Geschichte der Zeitmessung. Von ausgeklügelter Mechanik, über Elektrik bis zur Funkuhr. Auch das alte Zifferblatt außen an der Scheune wird mit Funksteuerung betrieben. Heutzutage laufe alles mit Zeitsignal. "Das wird dann nur an einen Computer weitergeleitet und das war's." Die alten Uhren will keiner mehr haben. Sie werden Georg Rammensee inzwischen oft persönlich angeboten. Nach wie vor fasziniert ihn die Mechanik. "Da bewegt sich was, eine Bewegung löst eine andere aus. Bei einer elektrischen Uhr sieht man nichts. Mechanik ist einfach was Schönes."

© SZ vom 02.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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