Warum dürfen überhaupt alle kommen?
Diese Frage ist auch unter Juristen sehr umstritten. Denn eigentlich steht in Artikel 16a des Grundgesetzes klipp und klar: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht." Darauf kann sich aber "nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft (. . .)." einreist. Und in Paragraf 18 Asylgesetz heißt es: "Dem Ausländer ist die Einreise zu verweigern, wenn er aus einem sicheren Drittstaat einreist" - wobei unter sicheren Drittstaaten explizit auch die Mitgliedstaaten der EU zu verstehen sind. Sowohl das Grundgesetz als auch das Asylgesetz klingen also ganz so, als könnte niemand, der aus Österreich kommt, in Deutschland Asyl beantragen.
Doch ganz so einfach ist die Sache nicht. Denn: Außerdem steht im Grundgesetz und im Asylgesetz, dass diese Vorschriften jeweils durch höherrangiges Recht überlagert werden. Im konkreten Fall ist das die sogenannte Dublin-III-Verordnung, die EU-weit regelt, welches Land für ein Asylverfahren zuständig ist: Im Normalfall ist es das Land, in dem der Flüchtling erstmals europäischen Boden betreten hat.
Wenn er dort aber keinen Antrag stellt, sondern erst in einem anderen Land, also etwa in Deutschland, "dann kann Deutschland diese Flüchtlinge nicht einfach an der Grenze ablehnen", erklärt Ulrich Becker, Direktor am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München. "Denn die Dublin-III-Verordnung sieht vor, dass sobald ein Flüchtling irgendwo einen Asylantrag stellt, das jeweilige Land prüfen muss, welches Land für das Asylverfahren zuständig ist."
Dublin wird momentan nicht konsequent angewandt
Deutschland müsse im Fall der über Österreich einreisenden Flüchtlinge also zumindest prüfen, in welchem Land der Flüchtling erstmals europäischen Boden betreten habe. Dieses Land sei dann für das Verfahren zuständig. "Lässt sich das nicht feststellen, etwa weil der Flüchtling es nicht weiß oder es nicht sagt, muss Deutschland das Asylverfahren selbst durchführen." So jedenfalls sei der Ablauf vorgesehen, wenn alles nach Recht und Gesetz abliefe. Doch auch Becker räumt ein, dass das mittlerweile nicht mehr wirklich der Fall ist. "Weder die Dublin-Verordnung noch der Schengen-Grenzkodex werden momentan von den Mitgliedstaaten konsequent angewandt."
Andere Juristen, etwa der Verfassungsrechtler und frühere Verteidigungsminister Rupert Scholz oder auch der streitbare CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler argumentieren deshalb, dass die Dublin-Verordnung die Regeln aus dem Grundgesetz und dem deutschen Asylgesetz nicht länger verdränge. Wenn das höherrangige Recht nur noch theoretisch gelte, faktisch aber nicht mehr angewandt werde, müsse Deutschland das Recht haben, seine Grenzen zu schützen, sagen die beiden.
Grundsätzlich habe jeder Staat das Recht, selbst zu entscheiden, welche Menschen er auf sein Gebiet lassen wolle, argumentiert Gauweiler. Mit der Dublin-Verordnung habe Deutschland dieses Recht an die EU abgetreten. Wenn nun aber die EU "nicht in der Lage ist, dieses ihr übertragene Recht effektiv auszuüben, fällt dieses Recht und die damit verbundenen Handlungspflichten zur Ausübung an die Mitgliedstaaten zurück." Sprich: Wer aus Tschechien oder Österreich nach Deutschland einreist, kann sich nach Ansicht von Gauweiler nicht auf das Asylrecht berufen.
Becker bezweifelt allerdings, dass "die damit behauptete Widerstandssituation" derzeit wirklich vorliegt. "Es muss aber dringend ein gerechtes und funktionierendes Verteilungssystem geschaffen werden", sagt er, "wobei alle EU-Mitgliedstaaten an dem jetzigen Chaos schuld sind, weil sie Grenzkontrollen und Flüchtlingsaufnahme immer noch nicht als gemeinsame Aufgabe begriffen haben."