Wirtschaft in Bayern:Unternehmerische Unsicherheit

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Viele bayerische Baufirmen sind in Großbritannien aktiv. (Foto: Sebastian Kahnert/dpa)

Der Brexit ist da - und doch nicht. Für bayerische Unternehmen, die mit Großbritannien Geschäfte machen, bleibt die Ungewissheit. Der Umgang damit wirkt routiniert, aber es gibt noch größere Probleme.

Von Maximilian Gerl

So viele Probleme. Franz Xaver Peteranderl sitzt in einem Münchner Konferenzraum, die Fenster gewähren Blick auf ein Baugerüst. Eine Plane flattert im Wind, während der Präsident des Bayerischen Handwerkstags die Herausforderungen für die Wirtschaft im Freistaat aufzählt. Der Konflikt zwischen den USA und dem Iran ist dabei, die schwache Konjunktur, die Industrierezession. Aber zumindest beim Brexit biete sich jetzt eine "Atempause", sagt Peteranderl. Noch meldeten sich wenige Handwerker mit Fragen dazu, meist ginge es dann um Arbeitnehmerüberlassungen. "Aber wir gehen davon aus, dass sich im Laufe der nächsten Monate bei dem einen oder anderen Betrieb weitere Fragen ergeben."

Eine Atempause: Die kommt all jenen in Bayern recht, die Geschäfte mit dem Vereinigten Königreich machen, vom Handwerker bis zur Konzernchefin. Zwar wird der EU-Austritt Großbritanniens in der Nacht von Freitag auf Samstag amtlich, nach mehrmals verschobenen Zeitplänen und scheinbar endlosen Debatten. Trotzdem bleibt alles beim Alten. Eine Übergangsfrist konserviert den Status quo bis zum Jahresende - und damit die allgemeine Unsicherheit. "Die Hängepartie ist noch nicht zu Ende", warnte die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft dieser Tage. Der harte Brexit sei immer noch möglich.

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Tatsächlich trügt die Ruhe. Laut einer Studie des Münchner Ifo-Instituts könnte der Brexit den Freistaat langfristig bis zu 1,4 Milliarden Euro Wirtschaftsleistung kosten. Eine andere Studie sieht 80 000 bayerische Arbeitsplätze direkt oder indirekt vom Exportgeschäft mit Großbritannien abhängig. Fallen die auch nur in Teilen weg, hat Bayern ein Problem.

Ohnehin kommt die Atempause aus bayerischer Sicht eher eine Alibi-Pause gleich, wie eigentlich die gesamte Zeitspanne seit dem Brexit-Referendum im Juni 2016. Seither rechnen viele Verbands- und Wirtschaftslenker mit dem Schlimmsten und müssen doch damit leben, dass es sich kaum greifen lässt. Entsprechend abgeklärt begegneten sie dem Thema in den vergangenen Wochen. Der Begriff "Wahnsinn" zählt zwar zu den freundlicheren Einschätzungen des britischen Gemüts. Aber ansonsten herrscht fast routiniertes Schulterzucken. Manche werten es schon als Fortschritt, dass wenigstens der Austritt fix ist.

Sicher ist, dass der Brexit nicht alle gleich treffen wird. Das Handwerk gilt als vergleichsweise gesegnet. Wer hierbei mit dem Ausland Geschäfte macht, ist vor allem in der unmittelbaren Nachbarschaft aktiv, etwa in Österreich. Vor allem Baufirmen führten Aufträge in Großbritannien aus, sagt Peteranderl. Manche hätten Lager angemietet, um im Falle eines Brexits Teile vorhalten zu können, andere entsprechende Klauseln in ihre Verträge aufgenommen. Vor größeren Herausforderungen steht die Industrie. Viele bayerische Firmen unterhalten Werke in Großbritannien, vertreiben dort ihre Waren. Die Exporte auf die Insel sind allerdings stark rückläufig. Die Industrie- und Handelskammern zählen 460 Niederlassungen von bayerischen Firmen in Großbritannien, ihr Gesamtumsatz liegt bei jährlich 42 Milliarden Euro. Umgekehrt beschäftigten britische Firmen in Bayern 45 000 Mitarbeiter und erzielen Umsätze in Höhe von 29 Milliarden Euro.

Der Wirtschaft würde es helfen, wenn die Brexit-Baustelle demnächst geschlossen würde

Beide Wirtschaftsräume sind also eng verflochten. Wer bei ihrer Entflechtung nicht auf der Strecke bleiben will, braucht einen Plan, aber das ist ja beim Brexit so eine Sache. Nach wie vor weiß keiner, wann was wirklich kommen wird. Die Vergangenheit machte Firmen in ihrer Not erfinderisch. "Risikomanagement", heißt das im Fachjargon, große Firmen haben dabei mehr Möglichkeiten und größere Zwänge. BMW etwa charterte eine russische Antonow samt Crew. Sie sollte das Mini-Werk in Oxford mit Teilen vom Kontinent versorgen, falls Lkw und Züge wegen Zollabfertigungen in Dover hängen bleiben sollten. Eine kostspielige Maßnahme, aber, so hatten es die Experten bei BMW ausgerechnet, immer noch günstiger als stillstehende Bänder. Dann verschoben die Briten den Austrittstermin, die Antonow wurde nicht mehr gebraucht.

Shit happens oder Glück im Unglück? Zur Komplexität des Brexits gehört, dass er nicht mehr das größte Problem zu sein scheint. Die Automobilindustrie zum Beispiel leidet unter der Diesel-Krise und dem Wandel hin zu Elektromotoren. Generell schwächelt die Konjunktur. Internationale Handelskonflikte bremsen die Exportwirtschaft, es fehlen Fachkräfte, die Digitalisierung stellt immer mehr etablierte Geschäftsmodelle in Frage.

Trotzdem würde es der Wirtschaft natürlich helfen, wenn zumindest die Brexit-Baustelle demnächst geschlossen würde. Alle wichtigen Verbände und Kammern sprechen sich für ein Handelsabkommen zwischen der EU und Großbritannien aus, um den wirtschaftlichen Schaden möglichst gering zu halten. Einerseits müsse dabei "Rosinenpickerei" durch Großbritannien verhindert werden, heißt es, die europäischen Grundfreiheiten - freier Waren-, Kapital-, Dienstleistungs- und Personenverkehr - seien unteilbar. Andererseits will niemand ein "No Deal"-Szenario. Und der britische Premier Boris Johnson gilt als unberechenbar.

Wie das Ganze ausgehen wird, darüber kursieren ganz unterschiedliche Prognosen, mal bessere, mal schlechtere. Aber alle sind halt: ungewiss. Peteranderl sagt, man habe ja gesehen, wie lange die ganze Sache bisher gedauert habe, und bei den Vertragsverhandlungen seien "viele Detailfragen zu klären". Er selbst glaube darum, dass die Übergangsfrist um ein weiteres Jahr verlängert werde. Die graue Plane draußen flattert inzwischen stärker, sie ist genauso grau wie der Himmel. Etwas ist aufgezogen. Peteranderl sagt: "Wir werden es sehen."

© SZ vom 01.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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