Es ist lehrreich, ab und zu die Schachtel mit den alten Sterbebildern hervorzukramen und über den unergründlichen Lauf der Zeit nachzusinnieren. Viele Verwandte und Nachbarn, die starben, als man selber noch ein Kind war, sind einem als uralte Leute in Erinnerung geblieben. Die Sterbebilder verraten das Gegenteil: Bei erstaunlich vielen meldete sich der Tod bereits im Alter von 54, 57 oder 62 Jahren, nur wenige erreichten das 70. Lebensjahr. Überdies waren sie, als sie von dieser Welt schieden, von der harten Arbeit gebeugt und gekrümmt. Der Schriftsteller Oskar Maria Graf beschrieb stellvertretend für all diese Schicksale einen mit 58 Jahren gestorbenen Verwandten: "Er sah schon lange aus wie ein abgezehrter, steifknochiger Greis. Seine spärlichen, langen dünnen Haare waren schlohweiß und das eingefallene, unheimliche gelbe Gesicht glich einem Totenkopf."
Soeben war zu lesen, am Wahltag im November werde der amerikanische Präsident Joe Biden 81 Jahre alt sein - und sein Kontrahent Donald Trump 78. Die Amerikaner scheinen Respekt vor dem Alter zu haben, obwohl es nicht immer weise macht. In Bayern achtet man bei der Wahl der Oberhäupter lieber auf Vitalität. Markus Söder war beim Amtsantritt als bislang jüngster Ministerpräsident 51 Jahre alt, dicht gefolgt von Edmund Stoiber (52), Max Streibl und Hanns Seidel (jeweils 56).
Vor wenigen Tagen wurde auf einem Dorffriedhof im Isental ein Landwirt zu Grabe getragen, der 65-jährig gestorben war. Auf den alten Grabsteinen des Gottesackers sind noch viele Namen aus dem 19. Jahrhundert zu lesen. Kaum jemand wurde älter als der soeben Verstorbene. Was ist Zeit, wer ist alt, wer ist jung? Fragen, denen man weder beim Betrachten der Sterbebilder noch auf dem kleinen Friedhof ausweichen kann. Eine Bäuerin sagte am Grab, mit 70 wisse sie nun endlich, was sie als junge Frau nicht wusste: nämlich, wie schnell 40 Jahre verfliegen können.
Wie bei jeder "Leich", so schien auch an diesem trüben Januartag die Zeit am Grab kurz stehenzubleiben. Sie wich der Erinnerung, dass das Leben zusammengeklammert wird von der Arbeit und vom Schicksal, das wiederum seine Gaben nach Gutdünken verteilt. Hier schenkt es Fröhlichkeit, dort verteilt es Tristesse. Niemand hat dieses Spannungsfeld so eindringlich beschrieben wie der Münchner Schriftsteller Ernst Hoferichter. Als er anno 1895 geboren wurde, kam die Hebamme zu spät. "Sie war auf dem Maskenball des Sterbekassenvereins Fröhlichkeit."