Bayern-Buch:Vergessene Orte und ihre Geschichten

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Wer zum ehemaligen KZ Flossenbürg fährt, passiert einen kleinen jüdischen Friedhof. Die Autorin fragt sich, welche Geschichten sich hinter den Grabsteinen verbergen. (Foto: Christian Greller)

Die Ruine eines NSDAP-Geheimverstecks, ein alter Friedhof, stillgelegte Gleise: Lost Places faszinieren die Menschen seit Langem. Neunzehn Schriftsteller haben sich von solchen Orten in Ostbayern inspirieren lassen.

Von Lisa Schnell, Regensburg

Einen eiskalten Januartag hatte sich Rolf Stemmle für seinen Besuch ausgesucht. Nördlich der A3 zwischen Regensburg und Passau stapfte er durchs nasse Gras und dann, hinter hohen Bäumen, sah er den Turm. Einsam ragte er in die Höhe, seltsam unversehrt mit seinen Kassettentüren und Rundbogenfenstern. Das letzte Relikt einer Geschichte, die sich vor rund 80 Jahren zugetragen hat. Sie handelt von Nazis, einem großen Feuer und einem Geheimnis, von dem fast niemand wusste. Auch Rolf Stemmle nicht. Er recherchierte und dann erfand er noch eine Geschichte dazu, ein persönliches Drama in der historischen Wahrheit.

So hatten sie sich das ausgedacht beim Ostbayerischen Schriftstellerverband und dem Battenberg-Gietl-Verlag aus Regenstauf. Sich inspirieren lassen von verlassenen und abseitigen Orten- neudeutsch: Lost Places - und ein Buch daraus machen. "Verlassenes Ostbayern" haben sie es genannt mit vielen Fotos von Orten, die sonst kaum einer kennt - ein vor sich hin bröckelndes Haus in Amberg, ein jüdischer Friedhof in der Nähe eines ehemaligen Konzentrationslagers, ein alter Truppenübungsplatz.

Seit den Siebzigerjahren steht das Haus im Hafnergässchen in Amberg leer. Seit dem Mittelalter stehen die Mauern dort, was sie wohl erzählen könnten? (Foto: Christian Greller/Christian Greller Fotografie)
Im Jahr 1938 wurde der Truppenübungsplatz Hohenfels errichtet, heute verwittern die Gebäude. (Foto: Christian Greller/Christian Greller Fotografie)

Und mit neunzehn Geschichten, die die Autoren und Autorinnen um diese Orte herumdichteten und damit- so sagt das Rolf Stemmle - aus einer unfertigen Situation etwas Abgeschlossenes machten.

Sein Turm etwa. Ein reicher Industrieller baute das Neue Schloss Steinach Anfang des 20. Jahrhunderts. Nach der Inflation konnte er es nicht mehr halten und verkaufte es 1939 an die "Reichsautobahn". Aus dem Schloss sollte eine Luxus-Raststätte auf der geplanten Autobahn von Nürnberg nach Wien werden. Dazu kam es nicht, es kam der Krieg und damit die NSDAP ins kleine Steinach nach Niederbayern. Sie suchten ein Versteck für ihre Parteidokumente, erst, um sie vor Luftangriffen zu schützen und später, um sie vor den anrückenden Amerikanern zu verbergen. 1943 also zogen sie ein, auch Martin Bormann, Leiter der Partei-Kanzlei der NSDAP hatte ein Büro dort. Rund hundert Schreibkräfte arbeiteten in der geheimen Parteizentrale und wurden möglichst unauffällig in Straubing untergebracht. Als das Kriegsende nahte, verbrannten sie ihr Archiv im Schlosshof und brannten damit das ganze Schloss mit ab - bis auf den Turm.

Nur der Turm ist übrig geblieben nach einem Feuer im Neuen Schloss Steinach in Niederbayern. (Foto: Christian Greller Fotografie/Christian Greller Fotografie)

Soviel zu den historischen Fakten, die in einem kleinen Infokasten vor jeder Erzählung zusammengefasst sind. Allein das ist ja schon eine "Wahnsinnsgeschichte", findet Stemmle. Er zumindest hatte keine Ahnung. Und hat versucht, noch eine Wahnsinnsgeschichte obendrauf zu packen. Er erzählt sie aus der Perspektive des Schlossverwalters. Der bringt seinen Neffen, einen Deserteur, der nicht mehr in den mörderischen Winter nach Russland möchte, im leeren Schloss unter. Als die NSDAP aus seinem Versteck ihr Geheimbüro machte, schaffte er es nicht mehr auszuziehen und musste dort dann mit der Angst leben, entdeckt zu werden. Jedenfalls bis zum großen Feuer. Das Ende, ob er es überlebte oder nicht, darf nicht verraten werden, sagt Stemmle.

Wer es wissen möchte, muss nicht allzu viel Zeit investieren. Kaum eine Erzählung hat mehr als zehn Seiten. Neben dem Nazi-Versteck in Steinach ist da etwa noch ein zusammengesacktes Bauernhaus im Landkreis Schwandorf und die Reflexionen, die einer angehenden Journalistin beim Besuch mit einer früheren Bewohnerin dort kommen. Sie philosophiert über den Verfall, neue Wege und Wiederentdeckung. Ein anderes Mal führt einen ein "Grant" zurück in die Zeit, als die Lokalbahn Hauzenberg-Passau Granit, Grafit und Holz aus dem Bayerischen Wald beförderte. Erst schweigsam, wie es den Woidlern nachgesagt wird, und dann doch gesprächig erzählt er von seinem Leben.

Die Bahnstrecke Hauzenberg-Passau stand Anfang des 20. Jahrhunderts für den Fortschritt, heute kämpfen Ehrenamtliche um den Erhalt der stillgelegten, aber wildromantischen Strecke. (Foto: Christian Greller/Christian Greller Fotografie)

Nur ein Ort sticht heraus. Verlassen ist er noch lange nicht und unbekannt ebenso wenig: Ohu bei Landshut, wo das Atomkraftwerk Isar II steht, das dieses Jahr abgeschaltet wurde. Der Autor aber erfindet einen Verein, der das Kraftwerk nicht abbauen will, sondern als "Lost Place" vermarkten und retten möchte. Und schon passt es wieder ins Konzept. Am Ende wird dieser Plan übrigens durch einen ungewöhnlichen Gegenspieler vereitelt: das Wasser. Eine Geschichte hat fantastische Anteile, eine andere bringt einem wahre Begebenheiten durch die Fiktion näher. Auch wenn eine Erzählung mal nicht den Geschmack trifft, ist sie so schnell durchgelesen, dass es kaum lohnt, sich zu ärgern.

Und für alle, die sich das verlassene Ostbayern nicht nur erlesen möchten, sondern es selbst erleben wollen, gibt es genaue Ortsangaben. Nur allzu viele Besucher sollten es nicht werden. Sonst müsste der Verlag sich einen neuen Titel ausdenken.

Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller Ostbayern: Verlassenes Ostbayern. Lost Places und vergessene Geschichten, Battenberg-Gietl-Verlag, 200 Seiten

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